Ukraine: Wirtschaften und überleben

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Seit dem 1. August ist Anastasia Buchna für sechs Monate Teil unseres Teams im Bereich Kommunikation & Change. Anastasia stammt aus der Region Priazovya, Ukraine, und musste nach der russischen Besetzung mit ihrem neunjährigen Sohn und ihrer Mutter aus ihrer Heimat fliehen.

Sie ist Journalistin und war in ihrer Heimatstadt Berdyansk als Herausgeberin verschiedener Tageszeitungen tätig. Bei uns wird Anastasia über die Situation in ihrer Heimat berichten und dafür ihre Netzwerke vor Ort nutzen. Schwerpunkt wird die Landwirtschaft und die Lage von Genossenschaften im besetzten und unbesetzten Teil der Ukraine sein. Dabei wollen wir persönlich werden und Menschen aus der Ukraine zu Wort kommen lassen.

Die ersten Wochen in unserem Team hat Anastasia genutzt, um Geschichten zu recherchieren. Erstes Ergebnis ihrer journalistischen Arbeit ist ihre Geschichte über eine Organisation von rund 200 Frauen, die zu großen Teilen genossenschaftlich organisiert sind und deren Felder auf beiden Seiten der Frontlinie liegen. Wir wünschen eine interessante Lektüre dieses Artikels und aller anderer in loser Folge erscheinenden Inhalte dieser Seite.

Andriy Dykun ist der Vorsitzender des ukrainischen Agrar-Rates. Dieser ist eine der größten Nichtregierungsorganisationen für Landwirt*innen im Land, der 1.100 mittlere und kleine landwirtschaftliche Betriebe mit einer Gesamtfläche von über 3,5 Millionen Hektar angehören. 2017 gründete der ukrainische Agrar-Rat seine eigene landwirtschaftliche Genossenschaft PUSK, deren Mitglieder zu günstigen Preisen Saatgut, Treibstoff und Düngemittel einkaufen, vermarkten und verkaufen können.

Der Agrar-Rat wurde 2014 gegründet, um die politischen Interessen der Landwirte zu vertreten und sie beispielsweise auch über Gesetzesänderungen und neue Entwicklungen in der Agrarmarktpolitik zu informieren. Ziel ist es vor allem, die ukrainischen Landwirte bei der Ausarbeitung von Gesetzen und der Festlegung der staatlichen Politik im Agrarsektor zu beteiligen. Seit dem russischen Angriffskrieg vertritt der Agrar-Rat auch die Anliegen des ukrainischen Agrarmarktes auf der internationalen Bühne.

Genossenschaftsbewegung in der Ukraine

Ein Ziel des Agrar-Rates war es schon vor dem Krieg, das Genossenschaftswesen populärer zu machen -- sowohl bei den einzelnen Landwirten wie auch bei staatlichen Behörden. Die ukrainische Genossenschaftsbewegung entstand Ende des 19. Jahrhunderts, konnte sich aber aufgrund der sowjetischen Besatzung nicht weiterentwickeln. Mit der Unabhängigkeit der Ukraine in den 1990er Jahren begann die Genossenschaftsbewegung wieder aufzublühen.

Seit Unabhängigkeit der Ukraine verhinderte dann die ukrainische Gesetzgebung eine starke Weiterentwicklung der Genossenschaften. So gibt es laut staatlicher Statistik heute 1.100 Genossenschaften in der Ukraine, vor allem in den Bereichen Produktion, Verbraucher und Banken. Auch in Kriegszeiten und auch in den russisch besetzten Gebieten halten die meisten ihren Geschäftsbetrieb aufrecht.

Andriy Dykun berichtet, dass erst vor einem Jahr gesetzlich geregelt wurde, dass auch juristische Personen Genossenschaften gründen können, vorher war dies nur für einzelne Personen möglich. Der Chef des Agrar-Rates ergänzt: „Auch die Steuergesetze müssen verbessert werden, um Genossenschaften zu fördern. Ich hoffe, dass dies geschieht bald.“

Bis zum Tag des russischen Einmarsches am 24. Februar 2022 sei es Mitgliedern des Agrar-Rates und der Genossenschaft gut gegangen. Das habe sich durch den Krieg stark verändert, sagt Dykun: „Deshalb bemühen wir uns jetzt vor allem um humanitäre Hilfe und Unterstützung für die landwirtschaftlichen Betriebe in den enteigneten Gebieten.“ Auch in relativ sicheren ukrainischen Regionen stünden die Landwirte vor großen Problemen: Der Verkauf der landwirtschaftlichen Produkte sei sehr schwierig, außerdem fehle es überall an Treibstoff und Düngemitteln. Landwirte in den Frontregionen müssten außerdem bei der Arbeit fürchten, von Granaten getroffen oder von Landminen auf den Feldern zerfetzt zu werden.

Von den 1.100 Mitgliedern des Agrar-Rates wirtschaften rund 300 Betriebe in den besetzten oder freigekämpften Gebieten. Einige Höfe mussten aufgegeben werden, weil die Landwirte in die freien ukrainischen Gebiete geflohen sind.

Die Landwirte in den russisch besetzten Gebieten waren die ersten, die die Gewalt der Besatzer zu spüren bekamen. Die meisten ihrer Höfe wurden von der pro-russischen Verwaltung verstaatlicht. Außerdem wurden sie zur Zusammenarbeit mit den Machthabern gezwungen -- oft mit vorgehaltener Maschinenpistolen. Sie mussten ihre Betriebe nach russischem Recht umregistrieren. Die Repressalien gehen jedoch noch weiter: „Das russische Militär droht auch damit, die Ausrüstung und die Ernte der Bauern zu beschlagnahmen", erzählt Andriy Dykun.

Wiederaufbau des Agrarsektors beginnt

Inzwischen hat die Ukraine einen Teil ihrer russisch besetzten Gebiete wieder zurückerobert und steht nun vor dem Wiederaufbau der durch den Krieg zerstörten Bauernhöfe. Andriy Dykun berichtet vom schrecklichen Zustand der Viehzuchtbetriebe in den besetzten Gebieten oder in der Frontlinie: Viele Gebäude und Anlagen seien zerstört, das Schlimmste seien jedoch die toten Rinder.

Der Agrar-Rat unterstützt in dieser Situation seine Mitglieder und sammelt Geld für den Wiederaufbau der Betriebe. Mit Unterstützung der US-staatlichen U.S. Agency for International Development und des ukrainischen Ministeriums für Agrarpolitik und Ernährung hat der Agrar-Rat eine interaktive Karte über die Verwüstung des ukrainischen Agrarsektors erstellt. Sie ist Teil einer Kampagne, die die Verluste der ukrainischen Landwirte durch den Krieg dokumentiert. So sammeln auch die Landwirte vor Ort Beweise, um in Zukunft für ihre Verluste entschädigt zu werden. Dabei setzen sie auch auf die Reparationen, die die Ukraine nach dem Krieg von Russland zu erhalten hofft.

Spendenfonds für humanitäre Hilfe und den Wiederaufbau des ukrainischen Agrarsektors

Der Krieg hat zwar einige der gewohnten Bindungen und Pläne der Ukrainer*innen zerstört, aber auch völlig neue geschaffen. So versuchen die Bauern, humanitäre Programme zu nutzen und für den ukrainischen Sieg zu arbeiten und ziehen auch freiwillig in den Krieg. Der Agrar-Rat konzentriert sich deshalb mit seinem Wohltätigkeitsfonds Save UA darauf, Medikamente und Lebensmittel für die Zivilbevölkerung in 14 Regionen und das ukrainische Militär zu beschaffen. Außerdem kauft er Fahrzeug für die Armee. Die landwirtschaftlichen Produkte werden dabei direkt von ukrainischen Erzeugern gekauft, um sie auf diese Weise zu unterstützen.

„Unsere Landwirte stellen ihre Transportmittel, Lastwagen und Lagerhäuser zur Verfügung. Wir erhalten die humanitäre Hilfe und lagern und verteilen sie mit ihrer Hilfe. So können wir über das Netzwerk unserer Mitglieder Nahrungsmittelhilfe leisten", sagt Andrii Dykun.

Die Landwirte nutzten alle ihnen zur Verfügung stehenden Plattformen, um ihre ukrainischen Landsleute zu informieren und Unterstützungs-Partner zu finden. Deshalb setzt sich der Agrar-Rat sehr dafür ein, dass die ukrainischen Landwirte auch im Ausland Gehör finden. Auch in Deutschland. So stellte Dykun im Oktober 2022 beim 5. Deutsch-Ukrainischen Wirtschaftsforum "Restoration of Ukraine" seine Vision vor, dass der Wiederaufbau des ukrainischen Agrarsektors auch erheblich durch Genossenschaften gelingen könnte.

Darüber hinaus initierte der Agrar-Rat gemeinsam mit der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft auf der EuroTier 2022, der größten internationalen Fachmesse für professionelle Tierhaltung, eine Spendenaktion. Je ein Euro jedes verkauften Eintrittstickets kam dem Wiederaufbau der ukrainischen Landwirtschaftsbetriebe zugute, außerdem wurden hundert 100 Stipendien für die Bildung und Ausbildung von Jugendlichen im Ararsektor.

Die große Bedeutung des Getreidekorridors für den ukrainischen Agarsektor

Wie Dykun betonte, sind die Mitglieder des Agrar-Rates, die vor allem Getreide- und Ölsaatenproduzenten sind, auf einen stabilen Betrieb des "Getreidekorridors" angewiesen.

Bisher waren die Häfen am Schwarzen Meer die Hauptroute für ukrainische Lebensmittelexporte in alle Welt. Der Krieg hat diese Exporte fast zum Erliegen gebracht. So hatte die Ukraine riesige Getreidemengen angehäuft, die deshalb nicht mehr exportiert werden konnten. Der Getreidepreis auf dem Inlandsmarkt sank deshalb. Der Vorsitzende des Agrar-Rates berichtet: „Vor dem Krieg exportierte die Ukraine 6-7 Millionen Tonnen Getreide pro Monat über ihre Häfen. Der Bahntransport wurde selten genutzt. Mit dem Ausbruch des Krieges wurden die Häfen geschlossen. Deshalb haben wir den Export auf der Schiene und mit LKWs ausgebaut. Leider ist diese Logistik sehr teuer.“

Vor der Öffnung des Getreidekorridors wurde das Getreide über die ukrainischen Donauhäfen Reni und Izmail exportiert. Zu allem Unglück folgte dem Kriegsausbruch noch eine Rekorddürre in der Ukraine, die zu einer Verlandung der Donau führte. Dies schränkte die Exporte über Wasser stark ein. Seit August ermöglicht ein von der Türkei und der UNO vermittelter „ grüner Korridor“ die Ausfuhr aus den drei ukrainischen Häfen Odessa, Pivdenny und Chornomorsk. Bis Ende 2022 sollten 16 Millionen Tonnen Getreide über diese Route exportiert werden. Für die Landwirte ist dies derzeit der wichtigste Weg, ihre Ernte zu verkaufen.

Die ukrainischen Landwirte hoffen nun auf einen stabilen Weiterbetrieb des Getreidekorridors. Deshalb haben Vertreter der Allukrainischen Agrarrada und anderer ukrainischer Landwirtschaftsverbände einen Appell an den UN-Generalsekretär António Gutteres, den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky und die Staats- die Regierungschefs afrikanischer, asiatischer, europäischer und anderer Länder gerichtet. In diesem Appel bitten sie die Vertreter*innen dieser Länder sowie der UN alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um den Getreidekorridor fortzusetzen und den sicheren Transport von Getreide aus ukrainischen Häfen zu gewährleisten. Die ukrainischen Landwirte wünschen sich Garantien, dass der Korridor um mindestens ein Jahr verlängert wird. „Jetzt geht es nicht darum, Geld zu verdienen“, betont Dykun, „sondern um zu erhalten, was wir haben. Schließlich ist heute der ukrainische Agrarsektor die Lokomotive unserer Wirtschaft.“

Genossenschaft arbeitet auch in Kriegszeiten weiter

Trotz des Angriffskrieges versucht die Genossenschaft des Agrar-Rates weiter für die Mitglieder zu arbeiten. Dabei ist der Kauf von Treibstoffen die Landwirte zu einem großen Problem geworden. Grund ist, dass die Treibstoffexporte aus Russland und Weißrussland von der Ukraine gestoppt wurden und außerdem viele ukrainische Treibstoff-Unternehmen zerstört wurden. Dykun hat mit seiner Genossenschaft hier einen Ausweg gefunden: „Wir haben einen eigenen Fuhrpark aufgebaut und importierten Treibstoff für unsere Mitglieder aus dem Ausland.“ Außerdem sucht die Genossenschaft nach Wegen, um Getreide über den "Getreidekorridor" ohne Zwischenhändler zu verkaufen und direkte Käufer zu finden.

Genossenschaften als Garanten für Zukunft

Andriy Dykun erklärt, dass die ukrainischen Landwirte in den letzten Jahren nur zögerlich zusammengearbeitet hätten und historisch bedingt Genossenschaften gegenüber skeptisch seien. Dies ginge unter anderem auch auf die lange sowjetische Besatzerzeit zurück, in der die Menschen gezwungen wurden, sich Kolchosen anzuschließen, aber auch auf die nachfolgenden ukrainischen Gesetze zurück.

„Es ist noch zu früh, um jetzt von einer großen ukrainischen Kooperation im Agrarsektor zu sprechen. Ohne den Krieg wäre sie wahrscheinlich schon möglich gewesen. Denn wir haben sehr effektiv im Bereich Düngemittel und Treibstoff zusammengearbeitet. Wir wollten eine eigene Milchverarbeitungsanlage bauen, mussten sie aber wegen des Krieges stoppen. Nach dem ukrainischen Sieg machen wir hier weiter. Kooperation ist unsere Zukunft. Ein einzelner Landwirt wird keine Fabrik oder einen eigenen leistungsstarken Verarbeitungskreislauf aufbauen können. Deshalb sprechen wir mit unserer Regierung darüber, was zu tun ist, um Menschen zusammenzubringen und Kooperationen zu fördern.“ Und der Weg dorthin führe über genossenschaftliche Zusammenschlüsse. Fest stehe, dass die ukrainischen Landwirte Produkte mit Mehrwert erzeugen müssten. Der Agrar-Rat hat bereits eine Strategie für zukünftige Investitionen in die ukrainische Landwirtschaft entwickelt und setzt dabei auch auf die internationale Gemeinschaft: „Gemeinsam mit internationalen Partnern müssen wir genossenschaftliche Milchverarbeitungsbetriebe, genossenschaftliche Schlachthöfe, Genetikzentren, Bildungs- und Forschungseinrichtungen sowie Fabriken für Bewässerungsanlagen schaffen und entwickeln. Genauso wichtig ist es, Fachkräfte auszubilden und junge Menschen für den Agrarsektor zu begeistern", sagte Andriy Dykun beim Runden Tisch "Marshallplan für die Ukraine" auf der Messe Eurotier in Hannover. Er ist davon überzeugt, dass die Ukraine für ausländische Investoren attraktiv ist und bleibt: „Unsere Regierung hat bereits Bewerbungen von potenziellen Investoren, die in den Agrarsektor der Ukraine investieren wollen.“

Text: Anastasia Buchna
Foto: Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft (DLG)

In Weihnachtsgeschichten, -büchern und -filmen geht es immer um Wunder, die dank der Güte und des Glücks von Menschen geschehen. In schweren Zeiten wie diesen stärkt und erwärmt jede freundliche Geste das Herz und hilft uns Ukrainer*innen, diese Kriegstragödie zu überstehen. Russlands Überfall auf die Ukraine hat Tausende Menschenleben vernichtet und viele Familien auseinandergerissen. Doch es gibt auch Tausende von Menschen, die sich erst durch den Krieg kennengelernt haben und sich gegenseitig helfen. Das ist das Wunder. Für mich ist ein solches Wunder die Begegnung mit der Familie Vöcker aus Ahaus-Ottenstein. Sie öffneten uns die Tür ihres Hauses, als meine Familie ihres in der Ukraine verlassen musste. Thomas und Martina Vöcker sowie ihre Kinder Paul und Lina waren unsere Retter in der Not, sozusagen unsere Weihnachtsengel. Ein weiterer Engel ist für mich auch Ursula Wagner, eine Freiwillige in Ottenstein, die mir geholfen hat, als Journalistin beim Genossenschaftsverband beschäftigt zu werden. Unsere Geschichte mit der Familie Vöcker steht für die große Solidarität und Unterstützung, die viele deutsche Bürger*innen gegenüber Geflüchteten aus der Ukraine zeigen. Und diese Hilfe ist genauso wichtig wie die militärische und finanzielle Unterstützung der deutschen Regierung für die Ukrainer*innen.

Wenn ich über das Schicksal meiner Familie nachdenke, kommen mir viele Parallelen zwischen diesem Krieg und dem Zweiten Weltkrieg in den Sinn. Es ist schon eine Tragödie, dass ich aus meiner ukrainischen Heimat fliehen musste, weil Soldaten aus dem russischen Geburtsort meines Großvaters nun gegen uns Krieg führen. In Ahaus-Ottenstein wurde ich dann von einem Landwirt aufgenommen, dessen Vater in der deutschen Armee im Zweiten Weltkrieg gekämpft hat. Im gleichen Krieg, nur auf der sowjetischen Seite, kämpften damals meine vier Urgroßväter. All dies erklärt, wie dramatisch es für jeden Ukrainer und jede Ukrainerin ist, wie die russischen Besatzer Herkunft und Familienbande manipulieren, Gebiete an sich reißen und unsere Städte und unser Volk zerstören wollen.

„Wir wollten gern helfen“

Thomas Vöcker erzählte mir, wie erschrocken und entsetzt er und seine Familie auf den Kriegsausbruch in der Ukraine reagiert haben. Als dann noch im März die Stadt Ahaus ihre Bürger*innen aufrief, die Ukrainer*innen zu unterstützen, überlegte er sofort, eine zwei- oder dreiköpfige ukrainische Familie aufzunehmen. Und genauso dachte auch seine Frau Martina. So entschieden sie gemeinsam mit ihren Kindern, uns das Angebot zu machen, bei ihnen zu wohnen. Wir sagten sofort zu. So kamen wir nach Ahaus-Ottenstein in die kleine, malerische Bauernschaft Hörsteloe auf den landwirtschaftlichen Hof der Familie Vöcker. Als ich Martina einmal fragte, warum sie und ihre Familie bereit waren, ihre eigene Bequemlichkeit und Zeit für Fremde zu opfern, sagte sie einfach nur: „Wir wollten gern helfen.“

Meine Familie und ich leben jetzt in der Stadt, in Ahaus. Wir sind sehr dankbar, dass die Familie Vöcker uns auch in schwierigen Situationen unterstützt.

Anastasia Buchna

Fotos: Marco Stepniak

Die Ukrainer*innen schätzen und lieben ihre Weihnachtstraditionen, die sich deutlich von den europäischen unterscheiden. Je nach Religion feiern die Ukrainer*innen Weihnachten nach zwei Kalendern: gregorianisch (25. Dezember) und julianisch (7. Januar). So begehen die ukrainischen Katholik*innen und Protestant*innen das Weihnachtsfest traditionell im Dezember, die orthodoxen Christ*innen jedoch im Januar. Sowohl der 25. Dezember wie auch der 7. Januar sind seit einigen Jahren Feiertage, zwischen denen die Schüler*innen Ferien haben.

In letzter Zeit diskutiert die ukrainische Gesellschaft wieder darüber, ob das Weihnachtsfest nicht für alle Ukrainer*innen auf den 25. Dezember gelegt werden sollte – und damit auf den gleichen Tag wie überall in der Welt. Nach einer Umfrage haben sich in diesem Jahr 44 Prozent der Ukrainer*innen dafür ausgesprochen, im letzten Jahr waren es nur 26 Prozent. Für die Ukrainer*innen ist dies ein symbolischer Schritt, - von der russischen Kirche zur europäischen Familie. Sollte dies gesellschaftlich so entschieden werden, würde diese Umstellung auf den gregorianischen Kalender sicherlich mehrere Jahre dauern. Für dieses Kriegsjahr hat die Orthodoxe Kirche jedoch schon angekündigt, dass sie auf Wunsch ihrer Gemeindemitglieder sowohl Messen am 25. Dezember wie auch am 7. Januar veranstalten wird.

Das Wichtigste an Weihnachten ist jedoch nicht das Datum, sondern der besondere Geist dieses Festes: Denn in der Ukraine wie überall in der Welt kommen Familien an Weihnachten zusammen, um gemeinsam zu feiern und zu essen.

Weizengarbe als Weihnachtsschmuck

Die meisten ukrainischen Weihnachtsbräuche gehen nicht nur auf die christliche Kultur, sondern auch auf heidnische Traditionen zurück und sind häufig mit der Landwirtschaft verbunden. Zum Beispiel gilt der Brauch: Je reichhaltiger die Speisen auf dem Weihnachtstisch sind, desto besser wird die künftige Ernte. Statt eines Adventskranzes gibt es in der ukrainischen Kultur den typischen Weihnachtsschmuck „Didukh“. Das ist eine kunstvoll gebundene Weizengarbe, manchmal mit Blumen und Bändern geschmückt, die ein Symbol für Reichtum und gute Ernte ist, aber auch die Ahnen ehren soll. Am Heiligen Abend setzt sich die ukrainische Familie erst an den festlich gedeckten Tisch, wenn der erste Stern am Himmel – als Symbol für die Geburt Christi – erschienen ist. Der Tisch ist mit zwölf Tellern eingedeckt, die zum einen die zwölf Apostel und zum anderen die zwölf Monate des Jahres symbolisieren. So mischen sich auch hier christliche und heidnische Traditionen.

Nach kirchlicher Tradition geht dem Weihnachtsfest ein 40-tägiges Fasten voraus. Alle Gerichte sollen mager sein und zum Beispiel aus Teig, Gemüse, Pilzen und Fisch bestehen. Fleisch soll erst wieder ab dem ersten Feiertag auf den Tisch kommen. Natürlich halten sich nicht alle Ukrainer*innen an diese Regel, sondern setzen eher darauf, dass die Weihnachtsgerichte mit Liebe und guten Gedanken gekocht worden sind.

Kutia als typisches Weihnachtsgericht

Am ersten Weihnachtstag gehen die Ukrainer*innen zum Weihnachtsgebet in die Kirche und treffen sich anschließend wieder mit ihren Familien zum Feiern. Dabei grüßen sie sich mit dem Satz „Christus ist geboren“ und der Antwort „Ihm sei Ehre!“ Das typische ukrainische Weihnachtsgericht ist „Kutia“, eine Süßspeise aus gedämpftem Weizen mit Mohn, Rosinen, Nüssen und Honig, das die Kinder an diesem Tag ihren Paten mitbringen. Dazu gibt es das Getränk Uzvar, das aus getrockneten Früchten und Beeren besteht. Geschenke für die Kinder, einen Adventskranz oder rote Dekoration gibt es zu Weihnachten in der Ukraine nicht, es wird eher traditionell gefeiert. Zum Neujahrsfest wird es doch in vielen Familien moderner und europäischer: Hier halten dann festlich geschmückte Weihnachtsbäume, glitzernder Weihnachtsschmuck und sogar der Santa Claus Einzug.

Ähnlich wie bei den Sternsingern in Deutschland wandern die Kinder und Jugendlichen am Abend des 6. Januar von Haus zu Haus, singen Weihnachtslieder und spielen traditionelle Theaterstücke. Dabei tragen sie den Weihnachtsstern von Bethlehem als Botschaft für die Geburt Christi mit sich. Als Dank für ihre Lieder erhalten die Kinder und Jugendlichen Süßigkeiten oder Geld. Denn es bringt Unglück, sie nicht ins Haus zu lassen und ihnen keine Geschenke zu geben.

Interessanterweise hat auch die ukrainische Kultur ihren Beitrag zur internationalen Weihnachtskultur geleistet. So wurde eines der bekanntesten modernen Weihnachtslieder in englischer Sprache „Carol of the Bells“ Anfang des 20. Jahrhunderts von einem ukrainischen Komponisten nach Folkloremotiven geschrieben.

In diesem Jahr steht das Weihnachts- und Neujahrsfest für die Ukrainer*innen unter keinem guten Stern und wird durch den Krieg überschattet. Viele Familien können nicht mehr gemeinsam feiern, weil sie durch den russischen Angriffskrieg auseinandergerissen wurden. Und einige Familien werden nie wieder zu diesem Fest zusammenkommen können. Die zentrale Weihnachtsbotschaft ist die Geburt Christi als Retter der Menschen. Deshalb werden alle Ukrainer*innen in der Weihnachtsnacht für den Frieden und die Hoffnung auf Sieg beten.

Text: Anastasia Buchna
Fotos: Marco Stepniak, Iryna Mylinska, Mariana Ianovska, Надія Коваль (Nadja Kowal) und Pavel/alle Adobe.com

Nach wie vor greifen die russischen Truppen vor allem die Infrastruktur der Ukraine an, besonders den Energiesektor. Dabei beschädigten sie nach Angaben der ukrainischen Regierung alle Wärme- und Wasserkraftwerke des Landes, außerdem 40 Prozent des Hochspannungsnetzes. Die Stromversorgung im Land ist deshalb erheblich eingeschränkt. Hinzu kommen nicht berechenbare Notstromausfälle durch militärische Angriffe oder schlechtes Wetter. Um kritische Infrastrukturen in Städten mit Strom zu versorgen, werden Privathaushalte und die übrige Wirtschaft nur zu bestimmten Zeiten mit Strom beliefert.

Allein in der vergangenen Woche wurde das ukrainische Stromnetz dreimal durch russische Angriffe schwer beschädigt. Die Reparaturarbeiten dauern länger als geplant und werden zusätzlich durch das schlechte Wetter erschwert.

Bei einem der Raketenangriffe auf die Energieanlagen am 11. Dezember traf es auch das Hafengelände von Odessa. Einer der drei Häfen konnte nicht mehr arbeiten, erklärte Mykola Solsky, Minister für Agrarpolitik und Ernährung der Ukraine, gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Die Getreideexporte mussten über die beiden anderen Häfen von Odessa - Chornomorsk und Pivdennyi – fortgesetzt werden.

Die Tierhaltung leidet am meisten

Für den ukrainischen Agrarsektor verursachen die Stromausfälle und die Stromknappheit große Probleme, da die Branche ohne Strom nicht zuverlässig arbeiten kann. Eine kontinuierliche Stromversorgung wird vor allem für den Betrieb von Elevatoren, Bewässerungssystemen und Kühlsystemen für die Lagerung von Fertigprodukten gebraucht, außerdem für die Aufzucht von Tieren und die Verarbeitung von Produkten. „Alle leiden unter den Stromausfällen, in der Landwirtschaft sind es vor allem die Viehzucht und die Agrarproduktion“, sagte der ukrainische Minister für Agrarpolitik und Ernährung Markiyan Dmytrasevych.

Wirtschaftlich überleben können die agrar-industriellen Betriebe nur mit Hilfe von Generatoren. Außerdem müssen sie ihre Produktion und Arbeitspläne umstellen sowie Nachtarbeit einführen. Große Agrarbetriebe können sich zwar leistungsstarke Generatoren im Ausland kaufen, müssen aber monatelang auf ihre Lieferung warten. Erschwerend kommt hinzu, dass der Einsatz von Generatoren auch die Produktion erheblich verteuert.

Die Stromausfälle führen auch zu höheren Kosten für die Milchproduktion und ihre Rohstoffe. Denn auch hier müssen Generatoren wie auch der Kraftstoff eingekauft werden. Ansonsten besteht die Gefahr, dass bei Stromausfällen die Produkte oder Rohstoffe verderben. Die Sonnenblumenverarbeitung und die Mehlproduktion stehen vor ebenso großen Schwierigkeiten.

Stromausfälle verlangsamen auch die Maisernte. Anfang Dezember waren etwa 30 Prozent der Maisernte in der Ukraine noch nicht eingefahren. Die Ernte verzögert sich hier zum einen durch das Wetter, zum anderen durch die Notstromausfälle, die zu einem instabilen Betrieb der Getreidetrocknungsanlagen führen. Deshalb erklärten schon in eine Reihe von Landwirten, ihren Mais nicht ernten zu wollen, weil die Maistrocknung viel zu teuer sei.

Die ukrainische Regierung hat auf diese Hiobsbotschaften mit dem Versprechen reagiert, dass die Preise für Lebensmittel nicht nennenswert steigen werden.

Ukraine bittet um Hilfe für ihre Landwirte

Das ukrainische Ministerium für Agrarpolitik unterstützt die Agrarbranche und konzentriert sich dabei vor allem auf mittlere und kleiner Viehzuchtbetriebe. Diese sollen Dieselgeneratoren erhalten, die vor allem in der Rinderzucht für Melkstände und Entbindungsstationen sowie in der Schweinezucht eingesetzt werden, damit die Ställe für die Haltung von Sauen mit Saugferkeln funktionieren. In der Geflügelzucht garantieren Generatoren unter anderem auch die Funktionsfähigkeit von Brutkästen und Ställen. Das ukrainische Agrarministerium prüft zurzeit den Bedarf an Notstromversorgung bei Landwirten und sammelt hierfür ihre Anträge auf Generatoren. Der Bedarf wird für die Agrarbranche auf 1.125 Generatoren geschätzt. (Quelle)

Das Ministerium für Agrarpolitik hat außerdem an alle Partnerländer der Ukraine appelliert, beim Kauf von Generatoren zu unterstützen. Die Bundesregierung hat der Ukraine am 12. Dezember weitere 50 Millionen Euro Hilfe für den Winter zugesagt. Seit Beginn des Krieges hat sie insgesamt mehr als 600 Millionen Euro für humanitäre Hilfe und die kurzfristige Instandsetzung der Energieinfrastruktur bereitgestellt. Hinzu kommen Sachspenden wie Generatoren und Transformatoren. Damit ist Deutschland der zweitgrößte Geber nach den USA. So erhält das ukrainische Staatsunternehmen Ukrenergo von der deutschen Staatsbank KfW einen Kredit in Höhe von 32,5 Millionen Euro. Mit diesen Mitteln ist "Ukrenergo" in der Lage, die vom Feind beschädigten Umspannwerke wiederherzustellen und die Stromversorgung im nicht russisch besetzten Gebiet der Ukraine zu stabilisieren.

Weitere Verhandlungen des ukrainischen Agrarministeriums laufen aktuell mit der Japan International Cooperation Agency (JICA) und der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO - Food and Agriculture Organization of the United Nations). (Quelle)

Fotorechte: State Emergency Service of Ukraine

Andriy Pastushenko ist der Direktor von "Dnipro", einem Agrarbetrieb in der Region Kherson, 25 Kilometer vom regionalen Zentrum mit dem gleichen Namen entfernt. Am 10. März hatten russische Soldaten die Region und seinen Betrieb besetzt. Nach genau acht Monaten, am 10. November, konnten die ukrainischen Streitkräfte einen Teil der Region und damit auch das Agrarunternehmen wieder befreien. Diese gute Nachricht erreichte Pastushenko auf einer Reise nach Deutschland. Hier wollte er Geländewagen kaufen, die das ukrainische Militär dringend braucht. Nachdem die Region, in der sein Betrieb wirtschaftet, vom russischen Militär eingenommen worden war, ist Pastushenko in den freien Teil der Ukraine geflohen. Wie viele seiner ebenfalls geflüchteten Kollegen unterstützte er von dort die ukrainischen Truppen, sammelte Geld und kaufte Ausrüstung für sie.

Unsere ukrainische Kollegin Anastasia Buchna traf Pastushenko im November auf der internationalen Messe EuroTier in Hannover. Dort sprach er als Mitglied des Verbandes ukrainischer Milcherzeuger über die Herausforderungen der ukrainischen Landwirtschaft in Kriegszeiten.

Genossenschaften für den Wiederaufbau

Wie viele seiner Kolleg*innen glaubt Andrij Pastushenko, dass die ukrainische Landwirtschaft mit Hilfe von Genossenschaften eine Chance hat, sich nach dem Krieg zu erholen und weiterzuentwickeln. Er betont, wie wichtig für ihn und seine Kolleg*innen die genossenschaftlichen Erfahrungen aus Deutschland, Österreich und Polen seien. Da die ukrainischen Milchkonzerne die Milchpreise drückten, hätten sich die Landwirte zusammengeschlossen, um höhere Preise für ihre Milch zu erzielen. Der Firmenchef: „Jetzt sind wir so weit, dass wir Genossenschaften aufbauen können. Ich bin mir sicher, dass dies die Zukunft ist, vor allem in der Milchviehhaltung. Investitionen in genossenschaftlich organisierte Verarbeitungsbetriebe werden immer relevant und für lange Zeit rentabel sein.“

Der nach ukrainischen Maßstäben mittelgroße Agrarbetrieb von Pastushenko bewirtschaftet 1.500 Hektar Land. Dazu gehört auch ein Milchviehbetrieb, der zu Kriegsbeginn 380 Milchkühe und mehr als 400 Kälber zählte. 76 Arbeitskräfte sind dort beschäftigt. Gründer und Besitzer des Agrarbetriebes sind deutsche Bürger*innen, die an die Zukunft der ukrainischen Landwirtschaft glauben und dort deshalb vor 15 Jahren investiert haben. Pastushenko erzählt, wie gut er mit seinen deutschen Investor* zusammenarbeitet und wie groß ihre Solidarität ist. Zum einen schenkten sie ihm als Geschäftsführer ihr volles Vertrauen und ließen ihm volle Handlungsfreiheit, zum anderen ließen sie alle Gewinne im Betrieb, damit investiert werden könne. Der Betriebschef: „Als der Krieg begann, sagten sie zu mir: Mach, was Du willst, aber sorge dafür, dass es den Arbeiter*innen gut geht. Außerdem glaubten sie mir, dass bald wieder die ukrainische Flagge über dem Betrieb wehen würde.“

Der landwirtschaftliche Betrieb arbeitete auch während der Besatzungszeit

In den ersten Tagen des russischen Einmarsches säten die Landarbeiter noch Gerste aus und schafften es sogar, Milch an die Milchverarbeitungsanlage in Mykolajiv zu liefern. Auch der Direktor arbeitete zunächst normal weiter. Als dann aber an einem Nachmittag 52 russische Hubschrauber über ihn hinwegflogen, wurde ihm klar, „dass es sich wirklich um einen ausgewachsenen Krieg handelt“. Zwei Wochen später, nachdem die Russen seinen Betrieb und das zugehörige Dorf besetzt hatten, brachte er sich, seinen Sohn und die Kinder seiner Mitarbeiter*innen in Sicherheit. Ihm war klar, dass er um sein Leben fürchten musste, weil er das ukrainische Militär unterstützt hatte. Eigentlich wollte er trotz der Gefahr wiederkommen, aber das Schicksal wollte es anders: Er musste seinem Betrieb wegen des Krieges acht Monate fernbleiben.

Seine Stellvertreterin leitete den Betrieb weiter. Weil die 50-jährige Frau früher Bürgermeisterin des Dorfes war und alle Menschen und die Situation dort gut kannte, wurde sie vom russischen Militär zur Zusammenarbeit gezwungen. Dreimal saß sie deshalb im Gefängnis, einmal davon für lange 16 Tage.

Da der Betrieb keine Milch mehr an Großunternehmen liefern konnte, mussten die Mitarbeiter*innen bei der Verarbeitung und Vermarktung ungewöhnliche Wege gehen. Der Direktor: „Wir überlebten dank der Tierhaltung und der Tatsache, dass wir weiterarbeiteten. Da wir der wichtigste Milchprodukte-Lieferant für Kherson waren, haben wir die Milch in den ersten Wochen mit Hilfe der Kirchen kostenlos an die Menschen verteilt.“ Später arbeitete der Betrieb mit Bierläden zusammen, die die Milch in Fässern abfüllten und an die Bevölkerung verkauften.

Da bald Futter fehlte, sank die Milchmenge der Kühe von 10 auf 3,5 Tonnen. Immer mehr kranke Tiere mussten außerdem geschlachtet werden, weil es keine Tierarzneimittel mehr gab. Aus den Gewinnen der Besatzungszeit finanzierte der Betrieb die Treibstoffkäufe und die Gehälter aller Mitarbeiter*innen, auch wenn sie geflohen waren. Ohne Gas, Wasser und Strom arbeitete der Betrieb nur mit Hilfe von Generatoren weiter und lieferte Milch nach Kherson. Damit der Weizen nicht für den niedrigen Preis von 50 Dollar pro Tonne an die Besatzer verkauft werden musste, verteilte das Agrarunternehmen das Getreide an seine Landverpachter.

Russische Militärregierung zwingt zur Zusammenarbeit

Der Agrarbetrieb Dnipro lag eine Zeit lang nur eine Straße von der Frontlinie entfernt, erzählt der Direktor: „Ja, es gab Angriffe auf uns. Aber weder ein Mensch noch ein Tier ist bei uns getötet worden. Wir haben trotz des Beschusses und vieler Anfeindungen weitergearbeitet. Einige unserer Leute wurden von den Russen gefoltert: Ihnen wurden Finger abgeschnitten. Aber alle haben überlebt.“

In den besetzten Gebieten zwang das russische Militär die Landwirte und landwirtschaftlichen Betriebe, darunter auch Dnipro, sich nach russischem Recht zu registrieren. Vertreter der militärischen Besatzungsverwaltung riefen außerdem mehrmals bei Andriy Pastushenko an und verlangten seine Rückkehr in den Betrieb. „Als ich sagte, dass ich nicht kommen würde, drohten sie mir, den Betrieb zu verstaatlichen. Ich wies sie darauf hin, dass sie dann auch die Verantwortung für alle Tiere sowie für 76 Angestellte und 500 Eigentümer*innen von Grundstücken übernehmen müssten. Danach haben sie nicht wieder angerufen.“ Die Besatzer brachten dann Investoren mit, die den Betrieb angeblich kaufen wollten, dann aber wegen der Frontnähe kein Interesse mehr zeigten.

Der Betriebsleitung saß die Anweisungen der Russen einfach aus und konnte so eine Neuregistrierung nach russischem Recht vermeiden. Außerdem unterstützten die Mitarbeiter*innen auch weiterhin die ukrainische Armee und meldeten ihr die Koordinaten der gegnerischen Stellungen.

Freude über die Befreiung und große Probleme

Nach der Befreiung des Teils der Region Kherson, der am rechten Ufer des Dnipro liegt, atmeten die Bewohner*innen auf. Doch die Lage bleibt schwierig, denn die Beschüsse des russischen Militärs auf die Bevölkerung und die systematische Zerstörung der Infrastruktur gehen weiter.

So gibt es seit mehreren Wochen weder Strom noch Gas im Betrieb. Zwei Generatoren sorgen dafür, dass der Betrieb läuft und das Melken möglich ist. Lastwagen sammeln die Milch ein und verkaufen sie an die Molkereien. Doch der Direktor fürchtet „eine Katastrophe“, wenn die Generatoren eines Tages ausfallen würden. Den Dieseltreibstoff für die Generatoren sowie weitere landwirtschaftliche Geräte musste das Unternehmen während der Besatzung von den Russen kaufen, die diese wiederum aus der Ukraine gestohlen hatten. „Ich habe lange überlegt, ob ich den Treibstoff vom russischen Militär kaufen sollte“, sagt der Betriebschef. „Aber es gab gute Gründe: Zum einen nahmen wir dem Militär so seine Treibstoffreserven weg und konnten es schwächen. Zum anderen kauften die russischen Soldaten mit dem Geld in unseren Läden Lebensmittel. Hatten sie kein Geld, beraubten sie einfach die Verkäufer.“ So kaufte das Agrarunternehmen während der Besatzungszeit mehr als 100 Tonnen Treibstoff von russischen Soldaten, vergrub sie im Heu oder versteckte sie irgendwo auf dem Betriebsgelände.

Vorbereitung auf den Winter

Zurzeit bereitet sich der Agrarbetrieb auf den Winter vor und sichert die Strom-, Gas- und Wasserversorgung. Das Unternehmen säte, erntete und lagerte Winterweizen und Mais ein, beschaffte Futtermittel und stellte Silage her. Außerdem säten die Landarbeiter*innen neues Wintergetreide auf 700 Hektar Land aus. Große Sorgen bereiten Pastushenko jedoch die verminten und zerbombten Felder: „Ein Teil der Ernte auf unseren Feldern ist verbrannt, ein Teil zerbröselt. Es gibt so viele Granaten, dass es unmöglich ist, dort noch zu arbeiten. Es wird den ganzen Winter dauern, die Felder zu entminen.“

Text: Anastasia Buchna / Sabine Bömmer
Fotos: Andriy Pastushenko

Solidarität mit der Ukraine zeigte die diesjährige EuroTier in Hannover, die mit über 100.000 Besucher*innen aus 141 Ländern eine der weltweit führenden Fachmessen für die Viehwirtschaft ist. Von jeder verkauften Eintrittskarte geht ein Euro an die ukrainische Hilfsorganisation Save UA, gegründet von dem ukrainischen Genossenschaftler Andriy Dykun.

Unter dem Titel "Kampf für die ukrainische Viehwirtschaft“ befasste sich eine große Konferenz auf der Messe auch mit dem Wiederaufbau des ukrainischen Agrarsektors. Verantwortlich für die Konferenz waren zum einen der Messerveranstalter, das ist die Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft (DLG), sowie der Deutsch-Ukrainische Agrarpolitische Dialog, der vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft gefördert wird. Vertreter*innen des ukrainischen Ministeriums für Agrarpolitik, der großen ukrainischen Agrarverbände sowie des deutschen Landwirtschaftsministeriums sprachen über die Herausforderungen für den ukrainischen Tierhaltungssektor. Gemeinsam mit Experten suchten sie Antworten auf die Fragen: Welche dramatischen Folgen hat der russische Angriffskrieg für die ukrainische Viehwirtschaft? Wie kann eine nachhaltige Erholung erreicht werden?

Vertreter*innen des ukrainischen Ministeriums für Agrarpolitik beziffern die Verluste im ukrainischen Agrarsektor auf fast 40 Milliarden Dollar, wovon sich die direkten Verluste auf 6,6 Milliarden Dollar belaufen. Dabei handelt es sich um zerstörte oder gestohlene Landmaschinen, zerstörte Bauernhöfe, Geflügelfarmen und andere Produktionsanlagen. "Wie viele von Ihnen haben schon Tausende von Hühnern gesehen, die auf der Suche nach Futter in einer zerstörten Geflügelfarm herumlaufen? Oder verängstigte Kühe, die durch die Wälder und Felder irren? Leider ist das in der Ukraine der Fall", informierte Mariya Yaroshko, Projektleiterin des Deutsch-Ukrainischen Agrarpolitischen Dialogs.

Taras Vysotskyi, Erster Stellvertretender Minister für Agrarpolitik und Ernährung der Ukraine, der sich per Video zugeschaltet hatte, bestätigte, dass nach vorläufigen Schätzungen 15-20 Prozent der Rinder, Schweine und des Geflügels durch den russischen Angriffskrieg verloren gegangen seien. Die Bauernhöfe kämpften um ihre Existenz und müssten bei Null anfangen und ihre Wirtschaft neu aufbauen. Die Betriebe in den Kampfgebieten hätten praktisch keine Chance, sich zu erholen. Der Minister lobte die Widerstandsfähigkeit der ukrainischen Landwirte trotz des Krieges und die große Unterstützung durch die deutsche Regierung. Viele Landwirte wünschten sich eine stärkere internationale Zusammenarbeit mit den EU-Ländern, insbesondere mit Deutschland.

Deutschland sagt weitere Unterstützung zu

Ophelia Nick, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, sicherte der ukrainischen Landwirtschaft weitere Unterstützung zu, zumal die Ukraine ein verlässlicher Partner für die Welternährung sei. Der Krieg habe gezeigt, wie wichtig die Ukraine als zuverlässiger Produzent von Agrarprodukten für Europa und die Welt sei. So stellt die Bundesregierung bereits zusätzliche Mittel für den Kauf von Tierarzneimitteln für den ukrainischen Viehbestand und für die Wiederherstellung der Produktion bereit. Europa sei sehr daran interessiert, neue Wege für den Export von landwirtschaftlichen Erzeugnissen aus der Ukraine zu finden und zu entwickeln, sagte sie.

Andriy Dykun, Leiter eines der größten ukrainischen Verbände "Ukrainian Agri Council" und Geschäftsführer der landwirtschaftlichen Genossenschaft "PUSK" sowie Gründer der Wohltätigkeitsorganisation SAVE UA, forderte die internationale Gemeinschaft zu weiterem Druck auf Russland auf. Der Getreidekorridor durch das Schwarze Meer müsse um jeden Preis offengehalten werden. Laut Dykun können die ukrainischen Landwirte die Frühjahrsaussaat nicht durchführen, wenn sie keine Absatzgarantie für ihre Produkte haben, zumal die inländischen Getreidepreise aufgrund der begrenzten Exportmöglichkeiten stark gesunken sind.

Die Viehzucht ist für die Ukraine heute sehr wichtig

"Der Krieg hat gezeigt, wie wichtig es ist, Produkte mit hohem Mehrwert zu produzieren. Die Viehzucht bietet diese Möglichkeit", sagte Dykun. Neben dem ständigen Bombardement und der Notwendigkeit, Gebiete zu entminen, sind langfristige Stromausfälle in den Betrieben zu einem der drängendsten Probleme geworden. Dies ist die Folge der russischen Raketenangriffe auf die Energieinfrastruktur der Ukraine. Die ukrainische Vizeministerin für Agrarpolitik Olena Dadus bat ihre deutschen Kolleg*innen deshalb um Unterstützung, zum Beispiel mit Generatoren.

Fast alle Redner*innen betonten, dass der Wiederaufbau des Agrarsektors nach dem Krieg eine Chance für die Ukraine sei, einen nachhaltigen, umweltfreundlichen Viehzuchtsektor aufzubauen, der in die EU integriert werden und deren Standards erfüllen könne. Gleichzeitig forderte Elena Dadus die europäischen Regierungen und Landwirte auf, die ukrainischen Kollegen nicht als Konkurrenten auf dem europäischen Markt zu betrachten.

Marshallplan für den ukrainischen Agrarsektor

Im Rahmen der EuroTier-Messe fand auch ein Runder Tisch zum Thema "Marshallplan für den Agrarsektor der Ukraine" statt. Die Vertreter*innen der ukrainischen Landwirtschaftsverbände sprachen sich dafür aus, Investitionen in den Agrarsektor nach dem Krieg Priorität einzuräumen. Auch der "Ukrainische Agrarkulturrat" und der "Verband der Milcherzeuger" stellten ihre Vision eines Marshallplans für den Wiederaufbau des Milchsektors in der Ukraine in einem Drei-Punkte-Plan vor:

  • Unterstützung der ukrainischen Erzeuger während der aktiven Phase des laufenden Krieges. Dazu gehört die finanzielle Unterstützung von Unternehmen in den befreiten Gebieten bei der Reparatur beschädigter Anlagen und zerstörter Ausrüstung sowie beim Kauf von Tierarzneimitteln und Generatoren.
  • Projekte der technischen Hilfe, Wiederaufbau von landwirtschaftlichen Betrieben, Entminung von landwirtschaftlichen Flächen und Kauf von Zuchtvieh.
  • Investitionen in die Entwicklung von Verarbeitungsbetrieben und Genossenschaften.

Die ukrainischen Landwirte waren auch sehr an den Erfahrungen der Genossenschaftsbewegung in Deutschland interessiert. Schließlich führe die Zusammenarbeit in einer Genossenschaft zu einer rentableren Nutzung der Ressourcen und mehr Möglichkeiten der Verarbeitung. Das Wichtigste für sie und die Investoren sei jedoch, in Sicherheit arbeiten zu können. Das hinge jedoch maßgeblich von einem Sieg der Ukraine ab und von Garantien, dass ein Angriff Russlands sich nicht wiederhole.

Die landwirtschaftlichen Flächen der Ukraine sind von existenzieller Bedeutung für die Welternährung. Durch den russischen Angriffskrieg auf das Land sind nun weite Gebiete durch Minen und wahrscheinlich explosive Granaten verseucht. Die Menschen, die auf den landwirtschaftlichen Flächen arbeiten, sind deshalb in tödlicher Gefahr. So werden immer wieder in den Medien Fotos von zerstörten Traktoren und Mähdreschern sowie Berichte über tote Landarbeiter*innen veröffentlicht. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums müssen rund 130.000 Quadratkilometer ukrainischen Territoriums allein von Minen geräumt werden. Experten schätzen, dass die Entminung und Räumung des Geländes etwa zehn Jahre dauern wird. Die Kosten dafür werden auf etwa 2 Milliarden Euro geschätzt.

Seit Kriegsbeginn wurden in der Ukraine bereits mehr als 274.000 explosive Objekte geräumt, darunter laut dem Staatlichen Katastrophenschutzdienst der Ukraine „mehr als s 2.000 Fliegerbomben". Die Minenräumer arbeiten jeden Tag in Gebieten, in denen entweder aktiv gekämpft wurde oder die beschossen wurden. Das sind die Regionen nahe der aktuellen Frontlinie oder die, die aktuell von der ukrainischen Armee befreit wurden. Die Minensucher konzentrieren sich dabei zuerst auf öffentliche Plätze und Wohngebäude, anschließend dann auf die landwirtschaftlichen Betriebe, vermessen die potenziell verminten Flächen und räumen die Felder. Dabei stehen sie unter hohem Arbeits- und Zeitdruck und in vielen Regionen unter ständigem Beschuss.

Findet oder vermutet ein Landwirt auf seinem Gelände Reste von Minen oder Munition, kann er auf dem Internetportal military.feodal.online des Ministeriums für Agrarpolitik In der Ukraine einen Antrag auf Minenräumung stellen. Spezialisten des staatlichen Notdienstes oder von zertifizierten Minenräumern bearbeiten die Anträge und stellen sie zur Bearbeitung in eine Warteschlange. Doch leider warten nicht alle Landwirte, bis sie an der Reihe sind. Sie arbeiten trotz der Gefahren weiter, lassen sich auf nicht genehmigte Minenräumungen ein und bezahlen dies mit ihrem Leben. Staatliche Organisationen, Rettungsdienste und Freiwillige warnen daher auf Feldern und Äckern zu arbeiten, die noch nicht vermessen oder geräumt wurden.

Die Minenräumung in der Ukraine wird international von den USA, Kanada, dem Vereinigten Königreich und europäischen Ländern, darunter auch Deutschland, finanziert. Diese Hilfe umfasst Gelder, Ausrüstung, Schutzausrüstung für die Minenräumer und Schulungen. Die ukrainischen Landwirte wiederum helfen den Minenräumern mit Treibstoff und Lebensmitteln.

Je schneller die Minenräumungen auf den landwirtschaftlichen Flächen geschehen, desto besser ist dies für die wirtschaftliche Sicherheit der Ukraine. Denn nach der Zerstörung der ukrainischen Industrie ist der Agrarsektor mit seinen Exporten die wichtigste Einnahmequelle des Landes.

Fotoquelle: Staatlicher Notdienst der Region Dnipro

Sorge um das Getreideabkommen zwischen der Ukraine und Russland und damit um die Welternährung: Das russische Verteidigungsministerium hatte das Abkommen kurzfristig vom 29. Oktober bis 2. November ausgesetzt. Grund hierfür sind nach russischen Angaben ukrainische Angriffe aus dem Getreidekorridor bei Odessa auf die russische Schwarzmeerflotte. Die Russen behaupten, dass die Angriffe auf ihre Kriegsschiffe von ukrainischen zivilen Schiffen aus der Getreide-Korridor-Zone ausgeführt worden seien. Außerdem macht Russland die Ukraine für Explosionen im besetzten Sewastopol auf der Krim verantwortlich. Die ukrainische Regierung bestreitet dies und beschuldigt die russischen Besatzer, von ihren Kriegsschiffen Kalibr-Raketen auf ukrainische Städte abzufeuern.

Am 30. Oktober blockierte Russland 218 ukrainische Schiffe, die an der "Getreideinitiative" beteiligt waren. Darunter war auch das Schiff IKARIA ANGEL mit einer Ladung von 40.000 Tonnen Getreide für Äthiopien. Das Land steht am Rande einer Hungersnot. Parallel bot Russland an, bis zu 500.000 Tonnen Getreide kostenlos an bedürftige Länder zu liefern. Das ist zynisch, weil Russland dieses Getreide aus der Ukraine stiehlt.

Gleichzeitig versuchten die russischen Streitkräfte, die ukrainischen Exporte weiter zu verhindern. Sie griffen nach Angaben des ukrainischen Militärs die Infrastruktur des ukrainischen Hafens Otschakow in der Region Mykolajiw an. So wurden am 31. Oktober zwei zivile Hafenschlepper, die einen mit Getreide beladenen Lastkahn in die See schleppen sollten, beschossen. Dabei wurden unter anderem zwei Besatzungsmitglieder getötet und eines verwundet.

UNO pocht auf Einhaltung des Getreideabkommens

Trotz der einseitigen russischen Aufkündigung des Getreide-Korridor-Abkommens verließen am 31. Oktober und 1. November weiterhin Schiffe mit dem Getreide den Hafen von Odessa. Denn die UNO, die Türkei und die Ukraine hatten am 31. Oktober einen Korridorplan für 16 Schiffe verabredet, die in die türkischen Gewässer einfahren durften. Die Türkei gab hierfür Sicherheitsgarantien ab. Russland wurde hierüber lediglich informiert. Außerdem erklärte der UN-Untergeneralsekretär für humanitäre Angelegenheiten, Martin Griffiths, dass die Schwarzmeer-Korninitiative trotz Russlands Ausstieg in Kraft bleibt.

Die UNO bezeichnete ihre Maßnahmen als "vorübergehend und als Notfall". Am 2. November stoppten die Ukraine, die Türkei und die UNO jedoch vorübergehend den Schiffsverkehr im Getreidekorridor und nahmen über die Türkei Verhandlungen mit Putin auf. Dabei gab die Türkei Sicherheitsgarantien für künftige ukrainische Getreideexporte ab. Außerdem überzeugte der

türkische Präsident Erdogan seinen russischen Amtskollegen Putin davon, sich wieder an das Abkommen zu halten. Die UNO hatte Putin unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass der Getreidekorridor funktionieren muss.

Am 2. November schließlich erklärten Putin und sein Verteidigungsministerium, sie hätten genügend Sicherheitsgarantien von der Ukraine erhalten, so dass Russland seine Beteiligung am Getreidekorridor wiederaufnehmen könne.

Wie Putin Getreide als Waffe einsetzt

Dies war nicht der erste Versuch Russlands, das Getreideabkommen zu Fall zu bringen und Unsicherheit und Angst in der Welt zu verbreiten. Russland hatte wiederholt damit gedroht, wegen angeblicher ukrainischer Vertragsbrüche aus dem Abkommen auszusteigen.

So hatte Putin Anfang September behauptet, dass die Ukraine ihre landwirtschaftlichen Produkte bevorzugt in das reiche Europa verschiffen würde. Nur drei Prozent der Export wurden die ärmsten Länder der Welt erreichen. Die Ukraine widersprach und legte Zahlen vor, nachdem ein Viertel des ukrainischen Getreides in die Entwicklungsländer geliefert wurde. Putin behauptete außerdem, dass die Ukraine Sprengstoff über den Getreidekorridor verschickt hätte, um die Kertsch-Brücke zwischen der Ukraine und der Krim zu bombardieren. Auch als die UN den Einsatz iranischer Drohnen bei Angriffen auf ukrainische Städte untersuchen wollte, drohte Putin, das Getreideabkommen kündigen. Diese Beispiele zeigen deutlich, wie massiv Putin das Getreide als Waffe einsetzt.

Drei Fakten zum Getreidekorridor

  • Nach Angaben der ukrainischen Regierung wurden in den drei Monaten der "Getreide-Initiative" 422 Schiffe mit 10 Millionen Tonnen landwirtschaftlicher Erzeugnisse exportiert. Die Schiffe liefen aus den ukrainischen Häfen Odessa, Tschernomorsk und Pivdennyy aus.
  • Insgesamt wurden 220.000 Tonnen Weizen im Rahmen des UN-Ernährungsprogramms in bedürftige Länder verschifft.
  • Das Abkommen für den Getreidekorridor über ukrainische Seehäfen endet am 22. November. Die Ukraine und die internationale Gemeinschaft wollen den Getreidekorridor weiter geöffnet halten. Aber was wird Russland dazu sagen?

Oleksij Wadaturskyj, einer der größten Getreidehändler der Ukraine, hat gewaltsein sein Leben verloren. Zusammen mit seiner Frau wurde er am 31. Juli 2022 von Granaten in seinem Haus in Mykolajiw getötet. Der 74-Jährige war Gründer und Generaldirektor von Nibulon, dem größten ukrainischen Agrarunternehmen. Dieses ist auf die Produktion und den Export von Weizen, Gerste und Mais spezialisiert und exportierte vor dem Krieg zehn Prozent des gesamten ukrainischen Getreides in 70 Länder. Wadaturskyj stand auf Platz 24 der ukrainischen Forbes-Liste, sein Finanzkapital wurde auf 430 Millionen US-Dollar geschätzt. Wegen seines herausragenden persönlichen Engagements für die Agrarwirtschaft wurde er 2007 mit dem Titel „Held der Ukraine“ ausgezeichnet. Der Tod von Wadaturskyj gilt als schwerer Verlust für die ukrainische Getreidepolitik und -strategie.

Putin greift gezielt Getreide-Infrastruktur an

Wadaturskyj ist nicht das einzige Opfer der Russen aus dem Agrarsektor. Viele Landarbeiter*innen wurden bereits von Granaten bei der Feldarbeit getötet oder von Landminen in Stücke gerissen.

Der russische Machthaber Putin droht ständig damit, wichtige politische Entscheidungszentren, wie die ukrainische Regierung in Kiew, anzugreifen. Mit dem Angriff auf Mykolajiw, das noch nicht von den russischen Truppen eingenommen werden konnte, holte Putin Ende Juli zum Schlag gegen ein bedeutendes Getreide- und Logistikzentrum aus. Und dies genau zu dem Zeitpunkt, als Oleksij Wadaturskyj nach neuen Wegen suchte, Getreide aus der Ukraine wieder in den Westen und Osten der Welt zu exportieren.

Wadaturskyj sollte in die Türkei reisen, um über den Export von Getreide aus den Häfen des Schwarzen Meeres und des Asowschen Meeres zu verhandeln. Viele Menschen trauten ihm hier revolutionäre Lösungen zu. Der Geschäftsmann unterstützte auch die ukrainische Armee und stand deshalb auf der Sanktionsliste Russlands. Inzwischen haben die russischen Besatzer auch seine Lager und Korn-Silos in den besetzten und illegal annektierten Gebieten übernommen.

„Menschen wie er, mit solchen Unternehmen in unserem ukrainischen Süden, haben die Ernährungssicherheit der Welt garantiert. Das war schon immer so. Und so wird es wieder sein“, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij über Oleksij Wadaturskyj.

Nibulon-Chef baute Flussschifffahrt wieder für den Export auf

Wadaturskyj setzte seine Ideen tatkräftig um. So erweckte er beispielsweise vor einigen Jahren die Flussschifffahrt wieder zum Leben. Das zahlt sich nun in Kriegszeiten, in denen ukrainische Häfen beschossen werden, besetzt oder zerstört sind, sehr aus. Wie seine Mitarbeiter*innen erzählen, hatte Wadaturskyj auch bereits entschieden, einen neuen Verladeterminal an der Donau zu bauen.

Doch der Agrarproduzent und -händler war nicht nur finanzstark und ideenreich, sondern auch politisch sehr einflussreich. Auch auf diese Weise konnte er viele Projekte erfolgreich umsetzen.

Um das Profil von Nibulon als führendes Unternehmen in der Flussschifffahrt zu schärfen, wartete Wadaturskyj mit großen Projekten auf. Diese waren zwar teilweise für das Unternehmen unrentabel, wurden aber erfolgreiche Werbe- und Sozialaktionen. So gab es viel Medienbeachtung, als Wadaturskyj beispielsweise Wassermelonen aus der Region Cherson auf dem Fluss nach Kiew verschiffen ließ.

Und natürlich war er einer der einflussreichsten Menschen in der Region Mykolajiw, wo er lebte und starb. Mit Ausbruch des Krieges blieb er in seiner Heimatstadt Mykolajiw und unterstützte die Stadt und ihre Bewohner*innen.

Sohn hat die Nachfolge bei Nibulon angetreten

Andriy Wadatursky hat inzwischen die Nachfolge seines Vaters als CEO von Nibulon angetreten und seine erste öffentliche Erklärung abgegeben. So berichtet er, dass der Krieg Nibulon nicht nur seines Gründers beraubt hat, sondern auch den Betrieb des Unternehmens stark beinträchtigt. Produktions-, Logistik- und Exportkapazitäten sind erheblich in Mitleidenschaft gezogen. 20 Prozent der Anlagen des Konzerns sind von den russischen Machthabern besetzt, das Exportvolumen ist stark zurückgegangen. Außerdem haben sich die Transportkosten für die Landwirte verzehnfacht. Dies hat ihre Gewinne geschmälert und die Preise für den Endverbraucher in die Höhe getrieben.

Wadatursky will die Pläne seines Vaters fortsetzen. So ist bereits die erste Bauphase des neuesten Terminals in Izmail an der Donau abgeschlossen. Ziel ist es, durch dieses Logistikzentrum unabhängiger von den Schwarzmeerhäfen zu werden, die seit langem blockiert sind. Um das Management von Nibulon zu unterstützen, hat Andriy Vadaturskyy außerdem einen internationalen Beirat rekrutiert. „Niemals aufgeben“, so die Devise des verstorbenen Firmengründers, wird auch das Credo des neuen Chefs von Nibulon sein.

Bildquelle: Konzern Nibulon

Oleksij Wadatursky gründete Nibulon 1991 mit ungarischen und britischen Investoren. In 30 Jahren hat der Agrarkonzern eine einzigartige Infrastruktur für die Getreidelogistik in der Ukraine geschaffen. Nibulon ist eine der vier größten Reedereien der Ukraine und Marktführer nicht nur in der Ukraine, sondern auch in der Schwarzmeerregion. Seit 2008 beteiligt sich Nibulon am UN-Welternährungsprogramm (WFP). Das Unternehmen lieferte landwirtschaftliche Produkte nach Pakistan, Äthiopien, Bangladesch, Kenia, Mauretanien, Jemen und in andere Länder. Nibulon hat 27 Umschlagterminals und Zentren für die Annahme, Lagerung und den Versand von Getreide und Ölsaaten sowie 445 Getreidesilos, die größte Anzahl in der Ukraine.

Große Probleme für das Wirtschaften der Landwirte

Die Landwirtschaft in der Ukraine ist in einer schwierigen Lage. Landwirte, die in relativ sicheren Gebieten arbeiten, haben Probleme, ihre Ernte zu verkaufen und zu lagern. Außerdem steigen die Preise für Treibstoff und Düngemittel ständig an. Zusätzlich müssen die Landwirte in den Frontgebieten täglich mit militärischem Beschuss und totaler Zerstörung ihrer Betriebe und Produktion rechnen. Doch die Landwirte, die in den Regionen wirtschaften, die von Russland illegal annektiert wurden, stehen noch vor viel größeren Problemen.

Etwa 20 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen sind seit Kriegsbeginn bereits in russischer Hand. Sie liegen in traditionellen Agrarregionen wie Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk. Durch die Annexion dieser Gebiete hat Russland nun deren landwirtschaftliche Produktion vollständig und widerrechtlich übernommen.

Noch im Frühjahr hatten die ukrainischen Bauern optimistisch in den heute annektierten Regionen ihr Saatgut auf den Feldern ausgebracht. Denn sie hofften, ihre Ernte in einer bereits befreiten Ukraine einfahren zu können. Doch sie haben sich geirrt, der Krieg dauert immer noch an und die Ernte fällt jetzt in die Hände der Besatzer.

Mit der Ernte, vor allem dem Getreide und Ölsaaten, betreibt Russland Piraterie, stiehlt sie und verschifft sie illegal über die Weltmeere und verkauft sie zu hohen Preisen auf dem Weltmarkt. Gleichzeitig hat Russland mit allen Mitteln versucht, den legalen Export des Getreides und der Ölsaaten über den Seeweg zu verhindern. Außerdem hat die russische Besatzung den ukrainischen Landwirten verboten, landwirtschaftliche Erzeugnisse in freie ukrainische Gebiete zu exportieren und dort zu verkaufen. Die Ukraine reagiert auf all das, indem den Verkauf von Getreide und Ölsaaten an russische Firmen oder russische staatliche Einrichtungen verboten hat. Gleichzeitig betrachtet sie die Zusammenarbeit mit der russischen Besatzungsverwaltung als Kollobaration und als Straftatbestand nach ukrainischem Recht: Die ukrainischen Landwirte stehen also vor einem unlösbaren Dilemma.

Landwirte zur Zusammenarbeit gezwungen

Nach der Annexion transportieren die Russen nun illegal so viel ukrainisches Getreide wie möglich ab. Außerdem planen sie die Enteignung von ukrainischen Landwirtschaftsbetrieben und zwingen die örtlichen Landwirte zu kollaborieren. So wurde in der Region Charkiw, die kürzlich von ukrainischen Truppen geräumt wurde, die Eigentümerin mehrerer landwirtschaftlicher Betriebe von den Russen verhaftet. Wie die Ermittlungen des ukrainischen Sicherheitsdienstes ergaben, hatte sie eine Vereinbarung mit den Besatzern getroffen: Sie sollte 70 Prozent ihrer Ernte an die Besatzungsbehörden abliefern. Im Gegenzug erlaubten ihr die Besatzer, das Ackerland und die landwirtschaftlichen Geräte anderer Höfe zu beschlagnahmen, die nicht mit dem Feind zusammenarbeiten wollten. Die Besatzer ernannten sie zur Leiterin einer örtlichen Bauernorganisation und erlaubten ihr, die "externe Verwaltung" des Vermögens anderer Bauernhöfe zu übernehmen.

Hier handelt es sich um ein typisches Beispiel: In den besetzten Gebieten können Landwirte, die kooperieren, belohnt werden. Sie erhalten dann Posten in der russischen Besatzungsverwaltung, Land, Maschinen und andere Vermögenswerte ihrer ehemaligen Kollegen oder Konkurrenten. Manchmal werden Landwirte auch zu Informanten und liefern Informationen über Konkurrenten, zum Beispiel über Personen mit einer aktiven pro-ukrainischen Haltung. Leider gibt es diese Fälle in allen besetzten Gebieten.

Fliehen oder mit den Besatzern leben?

Landwirte, die mit dem russischen Feind kollaborieren, gelten als Verräter. Aber ist es wirklich so einfach? Denn in Wirklichkeit ist für Ukrainer und Ukrainerinnen nahezu unmöglich, Angebote von Besatzern, die mit Maschinengewehren vor ihnen stehen, abzulehnen.

Die Alternative ist die Flucht, um das das eigene Leben zu retten. Aber was geschieht dann beispielsweise mit dem Vieh, den vielen Kühen, Schafen und Schweinen? Wer füttert sie? Was ist mit der Verantwortung für die eigenen Arbeiter und Angestellten auf den Höfen? Für viele Landwirte ist die Entscheidung mehr als schwierig.

Andriy Dykun ist Leiter einer großen Genossenschaft und des ukrainischen Landwirtschaftsrats, einer Nichtregierungsorganisation für die Rechte der Landwirte. Vor dem Krieg hatte seine Genossenschaft 1.100 Mitglieder, von denen im September noch 300 landwirtschaftliche Mitgliedsbetriebe in den besetzten Gebieten waren. Einige der Eigentümer waren gezwungen worden, ihr Land zu verlassen und ihre Häuser und Betriebe aufzugeben. Andere blieben in den besetzten Gebieten, um zu verhindern, dass ihre Betriebe dort verwaisen und an die Russen fallen. Inzwischen hat die Plünderung vieler verlassener Höfe in den besetzten Gebieten begonnen: Die Russen stehlen nicht nur Getreide und Maschinen, sondern auch persönliches Eigentum. "Alle, die dort geblieben sind, werden mit vorgehaltener Waffe gezwungen, ihre Betriebe umzumelden und mit den Kollaborateuren zusammenzuarbeiten", bestätigt Andriy Dykun.

Die Besatzungsverwaltungen versuchen gemeinsam mit dem russischen Militär, den agroindustriellen Bereich nach russischen Gesetzen und Modellen aufzubauen und behaupten deshalb, rechtmäßig zu agieren. Auf eigens einberufenen Treffen erklären die Russen den ukrainischen Landwirten auch, dass sie verpflichtet sind, sich registrieren zu lassen und Steuern zu zahlen, und bieten ihnen Kredite von russischen Banken an. In Wirklichkeit versuchen die Russen so, Informationen über die Landwirte, ihren Besitz und ihre landwirtschaftlichen Geräte zu erfahren, um sie für ihre militärischen Operationen nutzen zu können. Oft verstecken die Russen ihre militärische Ausrüstung in Bauernhöfen und Getreidespeichern. Nur in seltenen Fällen geben die Bauern hierzu freiwillig ihr Einverständnis.

Die ukrainischen Behörden empfehlen den ukrainischen Landwirten, landwirtschaftliche Erzeugnisse nur an ukrainische Unternehmen und ukrainische Staatsbürger zu verkaufen und als Bezahlung gegebenenfalls auch Sachleistungen zu akzeptieren. So zahlen beispielsweise die Mitglieder ländlicher Kreditgenossenschaften in den besetzten Gebieten ihre Schulden bei den Einlegern auf diese Weise zurück.

Da Lagerkapazitäten in der Ukraine nicht ausreichend vorhanden sind, können viele Bauern ihre Ernten nicht lagern und so auf bessere Zeiten hoffen: Die russischen Besatzer zwingen die Landwirte, entweder schnell zu einem niedrigen Preis zu verkaufen oder ihren Besitz einfach aufzugeben. "Ich weiß von Fällen, in denen einem Bauern ein Maschinengewehr an die Schläfe gehalten wurde, bis er sich bereit erklärte, sein Getreide zu verkaufen. Einem anderen Bauern wurde sein Sohn weggenommen - als Warnung für den Fall, dass er sich weigert, mitzuarbeiten. Was bleibt ihm dann übrig?", sagt Stanislav Zakharevich, Bürgermeister einer ukrainischen Dorfgemeinde in den besetzten Gebieten.

Andriy Dykun, Leiter der Kooperative, setzt sich dafür ein, dass alle Landwirte, die in den besetzten Gebieten sind, nicht automatisch als Verräter gelten. Seine Organisation wie auch andere Bauernverbände lobbyieren dafür bei ukrainischen Parlamentariern. Diese haben es jedoch nicht eilig, hier ein neues Gesetz zu beschließen, weil sie den russischen Machthabern nicht in die Hände spielen wollen. Dykun: "Wir hoffen, dass das ukrainische Parlament ein Gesetz verabschiedet, nach dem landwirtschaftliche Tätigkeiten in den besetzten Gebieten grundsätzlich nicht als Kooperation gelten. Denn wenn ein Landwirt gezwungen wird, sich zu registrieren und Steuern an die russischen Behörden zu zahlen, muss er das natürlich tun, um sein Leben zu retten“, sagt er. Aber natürlich sei es Kolloboration, wenn ein Landwirt freiwillig seine Maschinen für militärische Zwecke zur Verfügung stellt. Außerdem meint er: „Wenn ein Landwirt im besetzten Gebiet nur sein Land bewirtschaftet und seinen Angestellten Löhne zahlt, hat das nichts mit Kolloboration zu tun.“ Und er warnt: „Was würde passieren, wenn alle Bauern die besetzten Gebiete verlassen würden? Es wäre ein leeres Land."

Als Teil ihrer Propaganda-Strategie versucht die russische Regierung ihren Bürger*innen den Angriff auf die Ukraine und die Annexion besetzter Gebiete auch mit wirtschaftlichem Gewinn zu erklären. So rechnete Sergej Nasarow, stellvertretender Leiter des Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung der Russischen Föderation, öffentlich vor, dass die Angliederung ukrainischer Regionen an Russland die Getreideproduktion um 10 Prozent steigern könnte.

Obwohl die Annexion der besetzten ukrainischen Gebiete durch ein gefälschtes Referendum erst im September besiegelt wurde, sollen die Russen nach vielen Zeugenaussagen schon viel früher damit begonnen haben, Getreide aus den eroberten ukrainischen Gebieten zu annektieren.

Bereits im April meldeten die ukrainischen Behörden und Agrarunternehmer die Beschlagnahmung von Getreidespeichern ukrainischer Händler sowie den Diebstahl von Getreide bei den Bauern. Die russischen Besatzer erließen außerdem Dekrete zur Verstaatlichung des Eigentums von Getreidehändlern. So wurde das Getreide den Bauern in vielen Fällen gewaltsam weggenommen oder für wenig Geld aufgekauft.

Zur gleichen Zeit beobachteten die Bewohner*innen der besetzten Regionen Saporischschja und Cherson, wie ganze Kolonnen von russischen Lastwagen – beladen mit Getreide und Sonnenblumen und eskortiert von russischen Soldaten– auf den Straßen in Richtung Krim fuhren. Um die Abfertigung der Lkw am Zugang zur Halbinsel Krim zu beschleunigen, errichtete die Verwaltung der Halbinsel sogar weitere Checkpoints.

Auch auf dem Schienenweg wurde ukrainisches Getreide auf die besetzte Krim gebracht, und zwar über die Stadt Melitopol, die von den Russen zum Verwaltungszentrum der besetzten Region Saporischschja erklärt wurde.

Die ukrainischen Kollaborateure in den besetzten Gebieten machen keinen Hehl daraus, dass sie mithelfen, ukrainisches Getreide illegal zu exportieren. So gab der ukrainische Überläufer Jewhen Balizkij, inzwischen Leiter eines Teils der besetzten Region Saporischschja, der Presse die Auskunft: "Etwa 100.000 Tonnen (ukrainisches) Getreide werden über den kommerziellen Seehafen von Berdjansk exportiert. Vier große Schiffe stehen auf der Reede bereit, um beladen zu werden. Der Export erfolgt auch über den Schienenverkehr. Mehr als 100 Waggons sind bereits verschifft worden, inzwischen wurde ein weiterer Vertrag über 150 Tausend Tonnen Getreide abgeschlossen." Da staatliche russische Unternehmen legal kein ukrainisches Getreide aufkaufen dürfen und ihnen dann Sanktionen drohen, wenden sie eine neue Taktik an: nämlich den Kauf von Getreide über eine eigens gegründete Getreidegesellschaft. Auf diese Weise versuchen die Besatzer auf jede erdenkliche Weise, die Bauern zur Zusammenarbeit und zum Verkauf ihrer Erzeugnisse an sie zu bewegen. Unter anderem schlagen sie den Bauern vor, ihr Getreide an die Getreidesilos, Lager und Terminals der wenigen kooperierenden Bauern zu verkaufen, oder sie enteignen die Getreidesilos und Lager selbst großer Unternehmen wie Nibulon

Dabei bieten sie den Landwirten Preise auf niedrigstem Niveau. Da die Bauern ihre Ernten aus den besetzten Gebieten nicht im freien ukrainischen Landesteil verkaufen dürfen, haben sie keine Alternative.

Gestohlenes ukrainisches Getreide wird meist über Türkei verschifft

So gestohlenes ukrainisches Getreide wird auf Schiffe verladen, die in den Häfen von Sewastopol und Kertsch (Krim, Ukraine) beladen werden. Um Herkunfts- und Zielhafen zu verschleiern, haben die Schiffe deaktivierte Peilsendern und fahren auf dem Seeweg beispielsweise in die Türkei und weiter. Die falschen Transportpapiere suggerieren jedoch, dass es sich um russisches Getreide handelt, das in den russischen Häfen Kavkaz und Novorossiysk aufgeladen wurde.

Neben der Krim verschiffen die Russen das Getreide seit Kriegsbeginn auch aus Seehäfen in eroberten Gebieten, zum Beispiel aus Berdjansk in der Region Saporischschja. Dafür nutzen sie die Terminals mehrerer großen Hafenbetreiber, die vor dem Krieg mit Getreide handelten.

Mindestens ein Fall, bei dem Schiffe Getreide aus dem Hafen von Berdjansk gestohlen hatten, führte beinahe zu einem internationalen Skandal. Im Juni veröffentlichten die ukrainischen Kolloborateure in ihren Medien ein Video und berichteten über die Verschiffung von 7.000 Tonnen Getreide in mit Russland befreundete Länder. In dem Video waren der Name und die Erkennungszeichen des Schiffes verschleiert. Doch mit Hilfe des Dienstes MarineTraffic konnten der Schiffsname Zhibek Zholy sowie der türkische Zielhafen Karasu ermittelt werden. Die ukrainische Regierung ersuchte das türkische Justizministerium das russische Schiff samt der Ladung zu beschlagnahmen, doch dies gelang nur kurzfristig. Nach einigen Tagen wurde das Schiff wieder freigegeben. Das ukrainische Außenministerium bestellte deshalb den türkischen Botschafter in Kiew ein. Trotzdem kehrte die beladene Zhibek Zholy nicht wieder nach Berdjansk zurück, obwohl die russischen Besatzer dies bereits angekündigt hatten.

Nicht immer kann die ukrainische Regierung beweisen, ob es sich um gestohlenes Getreide handelt. Auch die Recherche von Journalisten und Strafverfolgungsbehörden auf Satellitenbildern und mit Ortungsdiensten reicht oft nicht aus. Denn die Beweise sind nicht immer eindeutig. So hat die Nachrichtengruppe Bloomberg zum Beispiel auf das extreme Wachstum der Getreideexporte von der Krim hingewiesen: Von Anfang März bis Mitte des Sommers wurden 50-mal mehr Produkte von der russisch besetzten Halbinsel exportiert als normalerweise zu dieser Jahreszeit. Dies könnte darauf hindeuten, dass ukrainische Agrarerzeugnisse illegal über diese Route ins Ausland exportiert werden.

Quelle: https://www.bloomberg.com/news/articles/2022-07-15/surging-crimea-shipments-point-to-stealing-of-ukrainian-grain?leadSource=uverify%20wall


Eindeutiger Fall von Getreidepiraterie: der Fall Laodicea

Ein weiterer Fall von Getreidepiraterie wurde von Igor Ostash, dem ukrainischen Botschafter im Libanon, beschrieben. Ihm gelang es, das syrische Schiff "Laodicea" auf Zwischenstopp im libanesischen Hafen Tripoli aufzuhalten, Dieses hatte verbotenerweise 5.000 Tonnen Mehl und 5.000 Tonnen Gerste aus der Ukraine geladen hatte. Über Satellitenbilder konnten die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden in diesem Fall die Spur des gestohlenen Getreides von der ukrainischen Stadt Berdjansk bis zur Krim verfolgen. Nach ihren Angaben übernahm die Laodicea die gestohlene Ladung in Feodosia (Krim, Ukraine). Anschließend deaktivierte das Schiff seine Peilsender und gab als vermeintlichen Ladehafen "Kavkaz" (Russland) an. Ein durchsichtiges Manöver: Denn der russische Hafen hat gar nicht den Tiefgang, um Schiffe wie die Laodicea aufzunehmen.

Bei der Festsetzung des Schiffes fanden sich weitere Beweise für den Raub: So wurden Etiketten auf den Mehlsäcken fotografiert, die auf ein Getreidesilo auf der besetzten Krim hinwiesen. Auch der russische Getreideverkauf über die Krim verstößt gegen internationales Recht. Außerdem fanden die ukrainischen Ermittler heraus, dass das verarbeitete Getreide aus den besetzten Gebieten der Regionen Saporischschja, Cherson und Mykolaiw stammte. Sie fanden auch trotz abgeschalteter Peilsender heraus, dass das Schiff weiter Richtung Syrien fuhr. Journalisten aus aller Welt, die regelmäßig russische Schifffahrtsrouten verfolgen, berichten, dass Syrien meist der Endabnehmer für illegales ukrainisches Getreide ist.

Im August wurde durch Verhandlungen zwischen der Ukraine, Russland und der Türkei mit Zustimmung der Vereinten Nationen offiziell ein „Getreidekorridor“ eröffnet. Seitdem kann ukrainisches Getreide rechtmäßig über den Seehafen Odessa in alle Welt transportiert werden. Doch Journalisten fanden auch heraus, dass in bestimmten türkischen Häfen Schiffe sozusagen Bord an Bord anlegen, die legal ausgeführtes Getreide wie auch illegal exportiertes Getreide von der Krim geladen haben.

Dies ergab jetzt eine Studie mehrerer renommierter amerikanischer Institutionen, darunter das Humanitarian Research Lab der Yale School of Public Health (YSPH) sowie das Department of Energy’s Oak Ridge National Laboratory (ORNL) for the Conflict Observatory.

Nach Angaben der ukrainischen Regierung konnten vor dem Krieg 75 Millionen Tonnen Getreide in der Ukraine gelagert werden. Jetzt sind 14 Prozent der Lagergebäude durch den Krieg beschädigt oder zerstört, weitere 10 Prozent der Lagerkapazitäten liegen in den besetzten Gebieten und sind in russischer Hand. Außerdem waren Anfang August waren noch etwa 30 Prozent der Lager mit 22 Millionen Tonnen der letztjährigen Ernte belegt und warteten auf Export. Und die Lagerkapazitäten der Ukraine sinken weiter: Denn jede Woche werden in den Frontgebieten weitere landwirtschaftliche Betriebe und Kornspeicher bombardiert.

Quelle: Ministerium für Agrarpolitik und Ernährung der Ukraine

Lagerkapazitäten für Getreideernte reichen nicht aus

Da die Schwarzmeerhäfen von Odessa inzwischen wieder für den Warenexport freigegeben wurden, konnte die Ukraine ihre Getreideausfuhren erheblich steigern. So verließen zwischen dem 1. August und 30. September 241 Schiffe mit 5,5 Millionen Tonnen landwirtschaftlicher Erzeugnisse die Häfen, dazu kamen noch Ausfuhren über die Donauhäfen und per Bahn. Doch immer noch liegt das Frachtaufkommen weit unter dem vor dem Angriffskrieg: Damals exportierte die Ukraine allein monatlich 6 Millionen Tonnen an landwirtschaftlichen Erzeugnissen.

Die Lagerkapazitäten der bestehenden Getreidespeicher, die entweder staatlich sind oder Agrarbetrieben gehören, reichen zurzeit nicht aus, viele Silos sind bereits voll. Dazu wird es für dieLandwirt*innen immer teurer, ihr Getreide in privaten Kornspeichern einzulagern. Hier sind die Preise inzwischen auf das Dreifache gestiegen.

Vereinte Nationen unterstützen beim Aufkauf von mobile Getreidespeichern

Die Bauern und Bäuerinnen suchen deshalb nach Alternativen. Dabei werden sie weltweit von Regierungen und Organisationen unterstützt, besonders auch von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO).

Die FAO wird deshalb temporäre und feste Getreidelager in die Ukraine liefern, darunter 30.000 Getreidesilos aus Polyethylen, Be- und Entlademaschinen sowie modulare Lagereinheiten bereitstellen und für deren Einsatz die Landwirt*innen entsprechend schulen. Projektunterstützer sind außerdem die Regierungen von Kanada und Japan, die australische Wohltätigkeitsorganisation Minderoo Foundation wie auch die US-Behörde für internationale Entwicklung (USAID). Sie will der Ukraine ebenfalls mit mobilen Silos mit einer Kapazität von 1 Million Tonnen Getreide helfen. Die mobilen Silos sind große Kunststoffsäcke, die die Ukraine auch schon in kleinerer Stückzahl und einer Füllmenge von 5 bis 6 Millionen Tonnen Getreide vor dem Krieg eingesetzt hat. Jetzt geht das ukrainische Agrarministerium von einem Lagerungsbedarf von 20 Millionen Tonnen aus.

Das ukrainische Agrarministerium sammelt derzeit Anträge von ukrainischen Landwirten, die diese temporären Getreidelagereinrichtungen einsetzen wollen. Darüber hinaus haben nach Angaben des Agrarministeriums auch große landwirtschaftliche Erzeuger mobile Getreidespeicher mit einer Kapazität für 15 bis 19 Millionen Tonnen Getreide angeschafft. Inzwischen ist der Weltmarkt für diese Einweg-Getreidespeicher fast leergefegt, berichtet der ukrainische Agrarminister Mykola Solsky.

Ukrainische Agrarexperten gehen davon aus, dass die ukrainischen Landwirt*innen zukünftig ihre Strategien für die Getreidelagerung ändern müssen, zum Beispiel durch Recycling oder neue Lagermethoden beim Getreide. Aber auch der gemeinsame Einkauf und die gemeinsame Nutzung von landwirtschaftlichen Geräten, Maschinen und Silos gelten als Optionen für die ukrainische Landwirtschaft der Zukunft.

Quelle: Ukraine: FAO verstärkt Anstrengungen zur Rettung der kommenden Ernte und zur Sicherstellung des Exports von lebenswichtigen Getreidesorten

Heute, wird Russland den Beitritt des besetzten Teils der Region Saporischschja zu seinem Hoheitsgebiet erklären. Parallel trauert der freie Teil der Region um die von der Russischen Föderation getöteten Menschen. Diese Ereignisse werden zusätzlich noch durch einen schweren Militärschlag gegen die freie Zentralstadt Saporischschja in der gleichnamigen Region überschattet: Mehrere russische Raketen schlugen dort ein und töteten dort nach Angaben der ukrainischen Staatsanwaltschaft (Stand 12.25 Uhr) 25 Zivilisten, 50 Menschen wurden verletzt. Unter den Opfern sind auch Kinder. Die Menschen hatten sich hier in 250 Autos und Bussen versammelt, um in das russisch besetzte Gebiet der Region zu fahren. So wollten sie dort unter anderem humanitäre Hilfe leisten und Angehörige und Freunde aus besetzten Gebieten zu retten. Nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine gab es um 12 Uhr 25 Tote und 50 Verletzte. Unter ihnen sind Kinder. Dier nachfolgende Bericht spielt im besetzten Teil genau dieser Region vor dem erzwungenen russischen Referendum.

Nach der Befreiung der ukrainischen Region Charkiw vom russischen Militär sieht die Welt neue Beweise für den Terror der vertriebenen russischen Besatzer an der ukrainischen Bevölkerung: Zerstörte Häuser, Massengräber, Folterkammern und Geschichten darüber, wie sie während der sechsmonatigen Besetzung in Angst lebten. Das berichten Menschen, die in den besetzten Gebieten leben oder aus ihnen geflohen sind, wie Bürgermeister Stanislav Zakharevich. Er lebt heute in der freien ukrainischen Stadt Saporischschja, die in der gleichnamigen Region liegt und in die viele Menschen aus den besetzten Gebieten geflüchtet sind. Die Region ist in einen freien und in einen russisch besetzten Teil geteilt, der letztere wird heute (30.09.2022) zum russischen Staatsgebiet erklärt. Der Bürgermeister von Sofiyivska Hromada in der besetzen Region erzählt, wie die Menschen unter den Besatzern leben und wie sie unter anderem trotz Lebensgefahr versuchen, Informationen über Militärausrüstung und Soldaten an den ukrainischen Geheimdienst weiterzugeben

Russische Besetzer unterdrücken die ukrainische Bevölkerung

Stanislav Zakharevich, der Bürgermeister von Sofiyivska Hromada in der Region Saporischschja, erzählt, wie die Menschen leben, die gezwungen sind, in der Besatzung zu bleiben. Stanislav selbst konnte nach einem Monat in einem russischen Gefängnis in das von der Ukraine kontrollierte Gebiet ausreisen. Von dort aus schickt er humanitäre Hilfe und versucht, die Menschen zu unterstützen.

Stanislav Zakharevich: "In meinen Heimatdörfern herrscht jetzt echter Terror. Die Russen haben ihre eigenen Leute in alle Führungspositionen gebracht. Vor Beginn des Schuljahres setzen sie die Lehrer unter Druck, mit russischen Lehrplänen zu arbeiten. Eltern, die nicht wollen, dass ihre Kinder eine russische Schule besuchen, wird gedroht, ihnen die Kinder wegzunehmen. Diese Schulen dienen nicht dem Lernen. Aber diese Schule dient nicht dem Lernen, sondern der Umerziehung durch russische Propaganda.“

Die Menschen in den besetzten Gebieten werden zusätzlich gezwungen, sich russische Pässe zu besorgen, berichtet der Bürgermeister. Stanislav: „Das russische Militär leistet humanitäre Hilfe nur im Austausch gegen persönliche Daten. Diese werden benutzt, um deren Abstimmung über den Beitritt zu Russland zu fälschen.“

Am 24. und 27. September haben die Russen in den besetzten Gebieten ein gefälschtes Referendum organisiert. Viele Bewohner versuchen, nicht daran teilzunehmen, haben aber keine andere Wahl. Für die Dorfbewohner ist es besonders schwer, sich zu entziehen. Denn die Wahlhelfer kommen direkt an ihre Haustür, begleitet von Soldaten mit Maschinengewehren. Auf diese Weise werden die Dorfbewohner gezwungen, für den Anschluss an Russland zu stimmen. Wer sich weigert, hat harte Strafen oder die Deportation zu fürchten.

Russen übernehmen die Wirtschaft in den besetzten Regionen

Zakharevich erzählt, dass Bauern und andere Geschäftsleute gezwungen werden, ihre Betriebe nach russischem Recht anzumelden und Steuern an die Besatzungsbehörden zu zahlen. Wer dies nicht tut, wird enteignet und inhaftiert. Außerdem verbieten die Russen, die geernteten Erzeugnisse in die Ukraine zu exportieren. Der Bürgermeister: "Sie sagen den Bauern: "Ihr müsst uns eure Ernte verkaufen, sonst nehmen wir sie euch weg.“ Wenn die Landwirte an die Russen verkaufen, erhalten sie beispielsweise 700 Griwna (20 Euro) pro Tonne Gerste, vor dem Krieg konnten die Landwirte die Tonne für 3.000-5.000 (80-150 Euro) pro Tonne verkaufen.

Bisher haben die ukrainischen Landwirte mit Maschinen von Weltmarken gearbeitet. Jetzt gibt es für sie keinen Service, keine Teile und keine Ersatzteile mehr – auch nicht aus Russland. Die Besatzer raten den Landwirten hartnäckig, russische und weißrussische Mähdrescher mit russischem Treibstoff zu kaufen. Die Landwirte haben nur die Wahl, nach russischen Regeln zu arbeiten oder zu gehen. Ohnmächtig müssen sie auch oft zusehen, wie russische Soldaten ihre Höfe plündern und Maschinen und ernten einfach mitnehmen. Im Rahmen einer allgemeinen russischen Verstaatlichung sind viele Bauern und Getreidehändler von der russischen Besatzungsverwaltung auch einfach enteignet worden. Dies bestätigen der Sicherheitsdienst der Ukraine, aber auch viele Aussagen von Kollaborateuren.

Die Situation ist in allen besetzten Gebieten sehr ähnlich. Ein Landwirt aus Nowa Kachowka in der besetzten Region Cherson, der anonym bleiben will, bestätigt dies. Die Soldaten haben ihm im Frühjahr seinen Betrieb und seine gesamte landwirtschaftliche Ausrüstung weggenommen. Nachdem er und seine Familie die besetzte Region verlassen hatten, wurde auch noch sein Haus geplündert.

Täglicher Kampf ums Überleben

Nachdem die Russen die Postautomaten mit Geld ausgeraubt hatten, stellte der ukrainische Postdienst, der die Renten und Sozialleistungen an die Bevölkerung ausliefert, seine Arbeit ein. Viele Menschen sind jetzt arbeitslos und haben kein Bargeld mehr. Denn die ukrainischen Banken haben geschlossen, deshalb ist es fast unmöglich in den besetzten Gebieten mit ukrainischen Bankkarten zu bezahlen. Die Menschen in den Dörfern können nur von dem leben, was sie in ihren eigenen Gärten und Obstplantagen anbauen. Die Bewohner können auch nur schwer mit humanitären Hilfsgütern aus der Ukraine beliefert werden. Das russische Militär verbietet die Versorgung in größeren Mengen. Daher müssen ukrainische Freiwillige Lebensmittel, Hygieneartikel und Medikamente in kleinen Mengen unter dem Deckmantel privater Pakete verschicken. Medikamente sind auf dem freien Markt schwer zu bekommen und dreimal so teuer wie in nicht besetzten Gebieten der Ukraine. Das Einzige, was in den besetzten Gebieten billig ist, ist Obst und Gemüse, das die örtlichen Bauern mangels Märkten fast umsonst verkaufen müssen.

Die Bevölkerung berichtet auch immer wieder von Übergriffen der russischen Soldaten. Zakharevich: "Sie haben begonnen, Ausrüstung und Munition in den Dörfern zu platzieren, direkt neben den Häusern. Betrunkene russische Soldaten schießen nachts, und das macht den Einheimischen, vor allem den Frauen, wirklich Angst." Die Russen nutzen diese in den besetzten Gebieten gelagerten Waffen, um Raketenangriffe auf andere ukrainische Städte, wie die freie ukrainische Stadt Saporischschja zu starten.

Die ukrainische Regierung schätzt, dass täglich bis zu 1.500 Menschen die besetzten Gebiete verlassen. Diejenigen, die bleiben, haben entweder kein Geld für eine Evakuierung oder können ihre alten Eltern nicht verlassen. Die Fluchtwege sind meist zerstört: So haben die Russen die Straßen in das ukrainische Gebiet zerstört. Die Autos müssen durch ein Feld fahren, dass durch den Regen ständig überspült. Hinzu kommen ständige und oft erniedrigende Kontrollen durch das russische Militär. Zur Einschüchterung werden Männer oft direkt an dieser Straße gefangen genommen.

Die Russen verkomplizieren ständig die Regeln für die Einreise in das von der Ukraine kontrollierte Gebiet. So erlauben sie jungen Männern zwischen 18 und 35 Jahren nicht mehr, dorthin zu reisen. So steigt die Befürchtung, dass diese jungen ukrainischen Männer bald in die russische Armee gezwungen werden könnten.

Die Räumung und Befreiung großer Teile der Ukraine von den Russen im letzten Monat hat die Menschen in anderen besetzten Gebieten sehr ermutigt. Doch nicht alle Ukrainer*innen erfahren von den Rückeroberungen der ukrainischen Armee, bedauert der Bürgermeister. Der Angriffskrieg auf die Ukraine ist seiner Meinung nach vor allem ein Informationskrieg. Immer wieder erzählen die russischen Propagandisten den Dorfbewohnern im besetzten Teil der Region Saporischschja, dass die Ukraine sie im Stich gelassen habe und Europa die Ukraine nicht mehr unterstütze. Stanislav: "Viele Menschen, die keine anderen Informationen haben, glauben dies verzweifelt und geben auf.“ Deshalb ermutigt der Bürgermeister seine Dorfbewohner: "Jede Nacht kommuniziere ich über das sehr schlechte Internet mit Menschen, die in unseren Dörfern geblieben sind. Während des Zweiten Weltkriegs war unser Gebiet mehr als zwei Jahre lang besetzt. Ich bitte die Menschen durchzuhalten und an den Sieg zu glauben."

Stanislav Zakharevich ist erst 30 Jahre alt und schon seit 2020 Bürgermeister von Sofiyivska Hromada, einer Gemeinde mit elf Dörfern. Diese landwirtschaftlich geprägte Region im Südosten der Ukraine, die zwischen dem Donbas und der Krim liegt, wurde bereits kurz nach der russischen Invasion besetzt.

Der junge Bürgermeister hat Geschichte studiert. Für jeden Historiker wäre es ein Segen, eine Epoche mit bedeutenden historischen Ereignissen nachzuzeichnen, für ihn persönlich wurde es jedoch ein Drama. Wie die meisten Ukrainer*innen wurde auch Stanislaw vom Ausbruch des russischen Angriffskrieges nachts im Bett überrascht. Morgens um 6 Uhr rief ihn die Leiterin der Dorfschule an und fragte, ob es wahr sei, dass der Krieg begonnen habe. Der Bürgermeister: "Sie weinte, und ich antwortete automatisch, dass das nicht sein kann. Aber dann habe ich in den Internet-Nachrichten gesehen, dass es stimmt.“

In den Dörfern, die zur Gemeinde von Stanislav Zakharevich gehören, lebten vor Kriegsausbruch 5.000 Menschen, darunter viele Landwirte und Landwirtinnen. Sie bauten hier Gerste, Raps, Weizen, Sonnenblumen und Erbsen an und finanzierten mit ihren Steuern den lokalen Haushalt. Die Bauern genießen ein hohes Ansehen in der Ukraine und sind deshalb mit die ersten, die von den Russen unter Druck gesetzt werden. Die russischen Besatzer fordern vehement die Zusammenarbeit mit ihnen ein und verlangen Maschinen und Getreide. Außerdem werden die Bauern und Bäuerinnen oft von den Russen inhaftiert und dann wieder gegen Lösegeld freigelassen, denn sie gelten als wohlhabend. So waren zum Zeitpunkt dieses Gespräches sieben Bewohner der Dörfer in russischer Gefangenschaft.

Russen zwingen mit Drohungen und Verhaftungen zur Zusammenarbeit

Wie der Bürgermeister berichtet, versucht das russische Militär in den besetzten Gebieten, Kolloborateure für die Bildung lokaler Behörden zu finden, doch bisher mit wenigem Erfolg. Zunächst bieten die Russen viel Geld und hohe Posten an, dann folgen Drohungen und Verhaftungen.

Zakharevich: "Meine Kollegen aus anderen Dörfern und Städten haben mich gewarnt und mir geraten zu fliehen. Aber ich beschloss, bei meinen Leuten zu bleiben. Die Russen hatten bereits andere Dorf- und Gemeindevorsteher festgenommen. Aber viele von ihnen wurden nach drei Tagen wieder freigelassen. Ich hoffte, dass es so auch bei mir sein würde." Doch Stanislav Zakharevich wurde 34 Tage im Gefängnis festgehalten.

Die Gemeinde des jungen Bürgermeisters wurde am 27. Februar besetzt, trotzdem setzten er und seine Kollegen ihre Arbeit für die Bürger*innen fort. Am 25. April standen Vertreter der Besatzer- Polizei vor seiner Haustür. Zwei von ihnen waren ehemalige ukrainische Polizeibeamte, die übergelaufen waren. "Man sagte mir, sie seien gekommen, um mir den Posten des Bürgermeisters von Primorsk (einer Küstenstadt am Asowschen Meer) anzubieten. Und dass ich in Zukunft sogar den Föderationskreis Taurida leiten könnte (eine Verwaltungseinheit der Russischen Föderation, der Russland die besetzten Gebiete im Süden der Ukraine angliedern will). Sie lobten mich als gute Führungsperson, die von vielen Menschen unterstützt werde. Natürlich habe ich abgelehnt. Damit waren sie nicht zufrieden." Während ihn die russische Polizei unter Druck setzte, sammelten sich die Dorfbewohner vor seinem Haus. Der Bürgermeister: "Es kamen etwa 20 Leute, darunter auch Frauen mit Kindern. Die Landwirte drohten mit ihren Autos die Straße zu blockieren, falls die Polizei mich mitnehmen würde. Die russische Polizei drohte im Gegenzug mit ihrem Militär, das viel Leid über das ganze Dorf bringen könnte. Ich bat deshalb die Dorfbewohner zu gehen. Die russische Polizei versprach mir, nur ein paar Stunden mit mir zu reden und mich dann laufen zu lassen.“

Während des Gesprächs bot Stanislav, sein Amt als Bürgermeister niederzulegen, verweigerte aber weiter die Zusammenarbeit: "Man sagte mir, dass ich nach der Folter sowieso zustimmen würde." Nach stundenlangem Verhör wurde er schließlich mit einer Plastiktüte über dem Kopf ins Gefängnis abgeführt und durfte seine Mutter informieren, dass er noch am Leben sei. Auch seine Mutter wurde unter Druck gesetzt, um ihn zur Zusammenarbeit mit den Russen zu überreden.

Folterungen im russischen Gefängnis

Stanislav wurde in ein ehemaliges ukrainisches Gefängnis in Berdjansk - der zentralen Stadt des Bezirks – gebracht, das die russischen Militärs sofort am ersten Tag der Besetzung übernommen hatten. Viele Zeugen bestätigen inzwischen die schrecklichen Dinge, die die Russen den inhaftierten Ukrainer*innen antun. Um im Gefängnis zu landen, genügt es, ein Foto der ukrainischen Flagge im Smartphone zu haben oder einen kritischen Beitrag in den sozialen Medien zu veröffentlichen. Stanislav erzählt, dass unter seinen Mitgefangenen auch ukrainische Militärs, zivile Aktivisten und Geschäftsleute, Frauen, 16-jährige Jugendliche und alte Menschen waren. Die Gefangenen fürchteten vor allem die Ankunft der Beamten vom Föderalen Sicherheitsdienst der Russischen Föderation, der Organisation, die Putin vor seiner Präsidentschaft leitete. Die Ankunft des Sicherheitsdienstes bedeutet Folter, erzählt der junge Mann. "Normalerweise sieht man die Emotionen von Menschen auch in den Augen. Doch die Augen dieser Menschen waren glasig und zeigten keine Gefühle mehr…“ Stanislav berichtet, wie ein älterer Mann aus einer benachbarten Zelle geholt wurde und die nächsten anderthalb Stunden lang alle Häftlinge schreckliche Schreie und Foltergeräusche hörten. Danach trugen ihn die Peiniger bewusstlos in seine Zelle. Die Einwohner von Berdjansk und ukrainische Gesetzeshüter berichten übereinstimmend, dass das russische Militär mehrere speziell für Folterungen ausgerüstete Fahrzeuge nach Berdjansk mitgebracht hatten.

Auch Stanislav musste in den Folterraum und wurde großem psychischem Druck ausgesetzt. "Es war eine kleine Zelle mit Folterinstrumenten, die auf Regalen lagen: von Messern und Schneidewerkzeugen bis hin zu verschiedenen elektrischen Geräten. In der Ecke befanden sich riesige Pfützen mit bereits eingedicktem menschlichem Blut.“ Seine Peiniger zeigten ihm, wie man mit einem großen Hammer die Beine brechen konnte. Doch der junge Mann hatte Glück und ist eine Ausnahme: Denn es gelang ihm, schwerer körperlicher Folter zu entgehen. Wahrscheinlich, so meint er, glaubte die Besatzungsverwaltung wirklich, dass der Bürgermeister mit der Zeit für sie arbeiten würde. Außerdem hatten Freunde, Dorfbewohner wie auch ukrainische Medien die Nachricht über seine Verhaftung bereits überall verbreitet. Die Russen befürchteten Protestwellen und hatten deshalb kein Interesse daran, ihn zu töten und ihn zum ukrainische Helden zu machen.

Das harte Leben im Gefängnis

Jeden Tag kam Stanislavs Mutter ins Gefängnis und fragte nach ihrem Sohn. Schließlich wurde ihr erlaubt, ihn mit Kleidung und Essen zu versorgen. Stanislav wurde in eine Einzelzelle mit geschlossenen Fenstern gesteckt, das Essen bekam er durch ein Loch in der Tür. In der Zelle lief bei Sommerhitze die Heizung, es war unerträglich heiß und Stanislaw fühlte sich wie in einem Ofen: "Ich war verzweifelt und dachte, ich käme da nie wieder raus. Vor allem, als ich merkte, dass es Leute gab, die schon zwei Monate im Gefängnis saßen.“

Nach 34 Tagen ließen die Sicherheits-Offiziere Stanislav unter drei Bedingungen frei: Er sollte nach Hause zurückkehren und seine Arbeit fortsetzen, bis ein loyaler Vertreter der russischen Behörden als Ersatz gefunden worden war. Es wurde ihm außerdem verboten, in das nicht besetzte ukrainische Gebiet zu reisen. Zusätzlich durfte er nicht über seine Erlebnisse im Gefängnis berichten und sich schlecht über Russland und sein Militär äußern.

Viele Ukrainer*innen sind in Kriegsgefangenschaft

Wenige Tage nach seiner Freilassung brachte der junge Bürgermeister den Gefangenen in Berdjansk Kleidung und Lebensmittel, die seine Dorfbewohner gesammelt hatten. Er sagt: " Viele Menschen saßen schon seit den ersten Kriegstagen im Februar im Gefängnis und trugen jetzt im Hochsommer immer noch ihre Wintersachen. Ihre Familien wussten entweder nicht, dass sie dort waren oder durften sie nicht versorgen.“

Nach Angaben des Gouverneurs der Oblast Saporischschja (der Region, in der Stanislav Zakharevych lebt) wurden seit Beginn des Krieges in der Region mehr als 500 Menschen vom russischen Militär verschleppt. Davon sind noch 200 Personen in Gefangenschaft. Darunter sind ukrainische Polizisten, lokale Behördenvertreter, Freiwillige, die der ukrainischen Armee geholfen haben, und Zivilisten, die zum Beispiel Lebensmittel brachten und Menschen evakuierten. Auch Lehrkräfte von Schulen und Universitäten wurden im Gefängnis von Berdjansk festgehalten. Das Gefängnis soll sie zwingen, für Russland zu arbeiten. Ihre Schicksale sind unterschiedlich: Einige wurden nach mehreren Tagen oder Monaten der Gefangenschaft und der Verhöre freigelassen. Andere wurden von der ukrainischen Regierung gegen russische Militärgefangene ausgetauscht. So wie Iwan Fedorow, der Bürgermeister von Melitopol, der gegen drei russische Soldaten ausgetauscht wurde. Am 11. März wurde er verschleppt und tagelang verhört. Später sagte er: "Sie haben mich ins Gefängnis gebracht." Und: "Ich hörte die Schreie von gefolterten Menschen aus den Zellen nebenan.“ (Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 22.4.22)

Das Leid der Landwirtinnen in der Ukraine

Traditionell galt die Arbeit im Agrarbereich in der Ukraine als Männersache. Doch in den letzten Jahren haben immer mehr Frauen die Leitung von Familienbetrieben übernommen. Dazu haben auch die ukrainische Genossenschaftsbewegung und sie unterstützende Organisationen beigetragen. Immer mehr Landfrauen wollen so ihre gesellschaftliche Bedeutung stärken, für mehr Gleichberechtigung im Agrarsektor sorgen und sich stärker an der ökologischen und umweltfreundlichen Landwirtschaft orientieren. Heute hat die Landwirtinnenbewegung jedoch ganz andere Sorgen. Durch den Angriffskrieg auf die Ukraine müssen sich die ukrainischen Landwirte und Landwirtinnen nicht nur um ihre Ernten und ihr Geschäft sorgen, sondern auch um ihren Lebensunterhalt und vor allem ihr Leben. Das erleben zum Beispiel die Bäuerinnen aus der Region Saporischijja in der südlichen Ukraine.

Frauen schlossen sich in Genossenschaften zusammen, aber müssen jetzt alles aufgeben

Im Jahr 2010 schlossen sich Landwirtinnen von kleinen Genossenschaften, aber auch landwirtschaftliche Einzelunternehmerinnen aus der Region Saporischijja zur Nichtregierungsorganisation The Women Farmer's Council in Zaporizhzhia (WFC-Zap/ Rat der Landwirtinnen in Saporischijja) zusammen. Die Region Saporischijja gehört zu den größten Agrarproduzenten im Land. Der Rat der Landwirtinnen entwickelte bis zum Angriffskrieg erfolgreich eine ukrainische Genossenschaftsbewegung und wurde dabei von ausländischen Genossenschaften stark unterstützt. Ziel ist es, die Landwirtinnen wirtschaftlich erfolgreich zu machen. Inzwischen sind 200 Landwirtinnen --und mit ihren Familien 1.000 Personen -- Mitglieder des Women`s Farmers Council. Sie bauen vor allem Gemüse, Obst und Beeren an, produzieren Milch, Milchprodukte und Honig. Gemeinsam richten sie Verkaufsstellen und Messen ein und kaufen Düngemittel ein. Sie lernen, neue landwirtschaftliche Technologien einzusetzen und tauschen ihre Erfahrungen und Ideen aus.

Doch nun ist fast 70 Prozent der Region Saporischijja vom russischen Militär besetzt. Ein Teil der Kleinstädte, Dörfer und Bauernhöfe liegt mitten in der Schusslinie. Der Rest der Region, einschließlich der Hauptstadt Saporischijja, wird von der Ukraine kontrolliert. Allen Entwicklungsmöglichkeiten der Landwirt*innen, einschließlich der genossenschaftlichen, hat der Krieg nun in diesen russisch besetzten Gebieten ein jähes Ende bereitet.

Die Koordinatorin des Landfrauenrats Oleksandra Harmacsh lebte vor dem Angriffskrieg in der nun besetzten Stadt Melitopol und musste ihren Hof verlassen, um in die westukainische Region Lviv zu fliehen. Das erging Olha Mizina, der Leiterin des Women`s Farmers Council in Saporischijja, ebenso. Etwa ein Drittel der Landwirtinnen der Frauenorganisation hat wegen des Krieges Häuser und Betriebe verlassen, um ihr Leben und das ihrer Kinder zu retten. Sehr oft bleiben die Ehemänner oder andere Verwandte zurück und kümmern sich teilweise unter Lebensgefahr um die Höfe.

Oleksandra führte wie 90 Prozent der Landwirtinnen einen kleinen Familienbetrieb und baut Beeren an. Die Kleinstbetriebe beschäftigen bis zu 10 Mitarbeiter*innen und erwirtschaften aus ihrem Verkauf ein Nettoeinkommen von 700.000 Euro. Kleine Betrieben haben bis zu 50 Mitarbeiter*innen, ihr Nettoeinkommen beträgt bis zu 8 Millionen Euro pro Jahr.

Tonnenweise verdorbenes Gemüse und Gefahr für das Leben

Kein Geld, die Unmöglichkeit, ihre Waren zu verkaufen und die ständige Bedrohung ihres Lebens: So leben und arbeiten die Landwirt*innen heute unter der Besatzung. Und immer mehr müssen ihre Höfe und Tiere verlassen. Der ukrainische Minister für Agrarpolitik und Ernährung, Mykola Solsky, stellt fest, dass es gerade die Ukraine-treuen Landwirt*innen mit der aktivsten politischen Position seien, die als erste unter dem Druck der russischen Besatzer zu leiden haben.

Das sieht Oleksandra Harmacsh ebenso. Sie berichtet, wie sehr die nationalbewussten ukrainischen Landwirt*innen in ihren Regionen geachtet werden. Diese würden von den russischen Besatzern zuerst unter Druck gesetzt, um sie zur Zusammenarbeit zu zwingen, notfalls auch mit Folter. Ein aktives Mitglied des Rates der Landwirtinnen wurde zweimal vor den Augen ihres kleinen Kindes verhaftet, ihr Haus wurde durchsucht. Deshalb brachte sie sich und ihr Kind in Sicherheit.

Wie Oleksandra Harmacsh betont, haben die Landwirt*innen in der besetzten Region keine Möglichkeit, ihre Erzeugnisse in dem von der Ukraine kontrollierten Gebiet zu verkaufen. Die Russen verbieten die Ausfuhr von Gemüse, Obst und Getreide aus den besetzten Gebieten. So dürfen Landwirt*innen entweder nicht in die unbesetzte Ukraine fahren oder sie müssen tagelang an den Kontrollpunkten warten, so dass die Produkte verderben und weggeworfen werden müssen. Außerdem sei es völlig unmöglich, Getreide oder Sonnenblumen aus den besetzten Gebieten zu exportieren. Die Besatzer würden die Bäuerinnen und Bauern zwingen, ihre Produkte an Russland zu verkaufen. Denjenigen, die sich weigerten, werde ihr Getreide einfach gewaltsam weggenommen.

Laut Harmacsh ist der Markt in den besetzten Gebieten inzwischen mit bäuerlichem Gemüse und Obst übersättigt. Ihre Gurken und Tomaten müssen die Landwirt*innnen beispielweise für 2-3 Griwna pro Kilo verkaufen. Das sind weniger als 10 Eurocent. Auf ukrainisch-kontrolliertem Gebiet können sie dagegen den zehnfachen Preis für ihre Früchte und ihr Gemüse bekommen.

Inzwischen hätten die Menschen in den besetzten Gebieten auch nicht mehr das Geld, um die Preise zu zahlen. Außerdem müssen sich die Landwirtinnen laut Oleksandra Harmcsh entscheiden, ob sie ihre Erzeugnisse einsammeln und kostenlos verteilen, ob sie sie für wenig Geld verkaufen oder sie einfach auf den Feldern liegen lassen. Denn der Treibstoff für die Ernte kostet inzwischen mehr als die Ernte selbst.

Anastasia Buchna

Seit 2010 arbeiten Landwirtinnen aus der Region Saporischijja in der südlichen Ukraine, die sich zu großen Teilen in kleinen Genossenschaften zusammengeschlossen haben, mit der Nichtregierungsorganisation The Women Farmer's Council in Zaporizhzhia (WFC-Zap/ Rat der Landwirtinnen in Saporischijja) zusammen. Ziel ist es, noch erfolgreicher zu wirtschaften. Die Region Saporischijja ist eine der größten Agrarproduzenten der Ukraine. Seit vielen Jahren arbeiten die Landwirtinnen der Organisation mit ausländischen Genossenschaften daran, die Genossenschaftsbewegung in der Ukraine weiterzuentwickeln. Diese gewachsene Partnerschaft erweist sich auch in Kriegszeiten als sehr hilfreich.

Als der Krieg begann, zeigten die Genossenschaften aus anderen Ländern sofort Solidarität und unterstützten die ukrainischen Landwirt*innen vor allem in den ländlichen Gebieten. Oleksandra Harmacsh, Koordinatorin des Landwirtinnen-Rats, erzählt: „Unsere ausländischen genossenschaftlichen Partner schickten uns viel humanitäre Hilfe. Aber genauso wichtig war ihre Informations- und Kommunikationshilfe. So unterstützten sie uns auch dabei, die Wahrheit über diesen Angriffskrieg Russlands zu erzählen. Denn die russische Regierung versuchte, ihre Propaganda über die Notwendigkeit des Krieges auch im Ausland zu verbreiten. Unsere Landwirtinnen engagierten sich deshalb in Online-Veranstaltungen für Genossenschaftsmitglieder und klärten sie über die russische Aggression gegen die Ukraine auf.“

Zur Zeit konzentriert sich die internationale Unterstützung, die früher zur Entwicklung der ukrainischen Bauernkooperativen beigetragen hat, ganz auf die humanitäre Hilfe. Das versetzt den Rat der Landwirtinnen in die Lage, ihre Mitglieder mit Lebensmitteln, Saatgut, Treibstoff für die landwirtschaftliche Arbeit und Zahlungen für Strom und Wasser zu unterstützen. Die in der Nichtregierungsorganisation organisierten Bäuerinnen kümmern sich außerdem um Steuerfragen, die Gewerbeanmeldung und die Registrierung von Entschädigungen für die im Krieg zerstörten Maschinen und Geräte. Sie helfen den Vertriebenen, aber auch der ukrainischen Armee.

Der Rat der Landwirtinnen schaut jedoch auch schon in die Zukunft und bereitet sich auf die Zeit nach Kriegsende vor: Oleksandra Harmacsh geht davon aus, dass sich Genossenschaften und andere Bauernverbände in der Ukraine aktiv am Wiederaufbau der ukrainischen Landwirtschaft beteiligen werden. „Die Genossenschaftsbewegung wird hierbei definitiv eine Rolle spielen. Außerdem werden sicherlich der ukrainische Staat, aber auch das Ausland den Verbänden der landwirtschaftlichen Erzeuger Hilfe leisten.“

Problematischer sieht es mit den Menschen aus, die in der Landwirtschaft arbeiten: Viele hätten ihre Heimatorte verlassen, viele seien ins Ausland gegangen. Es sei schwer zu sagen, wer in die Ukraine zurückkehren und wer im Ausland bleiben werde. Harmacsh: „Damit die Landwirte und Arbeiter zurückkehren können, müssen wir eine Basis schaffen, dass sie ihre Betriebe wiederaufbauen können. Dafür können Genossenschaften die finanzielle und kommunikative Unterstützung dafür bieten.“

Eine gute Zukunftsperspektive für die Kleinbauern und -bäuerinnen sieht sie auch in der gemeinschaftlichen Verarbeitung von Produkten. Schon vor dem Krieg schlossen sich Landwirte zusammen und mieteten Maschinen zur Herstellung von Grütze, Mehl oder Sonnenblumenöl. So hätten Bäuerinnen außerdem eine Käserei gegründet.

Ivan Vyshnevskiy, stellvertretender Leiter des USAID/Credit for Agriculture Producers Project in der Ukraine, berichtet, dass die logistischen Probleme während des Krieges die Landwirt*innen bereits dazu veranlasst hätten, Verarbeitungsmöglichkeiten für ihre Erzeugnisse zu entwickeln. Zum Beispiel für die Herstellung von Mehl oder das Einfrieren von Beeren.

Auch Olha Mizina, die Leiterin des Rates für Landwirtinnen, geht von dem Wiederaufbau der ukrainischen Landwirtschaft nach Kriegsende aus. Sie erzählt, dass sie vor dem russischen Angriff einen Zuschuss zum Aufbau ihrer Familienkooperative erhalten hat. Sie hofft, dass sie bald nach Hause zurückkehren und ihren Plan umsetzen kann: sobald die Ukraine den Krieg gewonnen hat. Sie auch wie viele andere Ukrainer*innen ziehen hier keine andere Option in Betracht.

Anastasia Buchna
Foto-Credits: Women`s Farmers Council

  • Ernte von rund 67 Millionen Tonnen Getreide und Ölsaaten erwartet

In diesem Jahr plant die Ukraine, 65-67 Millionen Tonnen an Getreide und Ölsaaten zu ernten, obwohl das Land durch aktive Militäroperationen und die russische Besetzung der südöstlichen Regionen 25 Prozent ihrer Anbauflächen verloren hat. 2021 hatte die Ukraine eine Rekordernte von 106 Millionen Tonnen Getreide und Ölsaaten. 2020 fiel die Ernte durch Dürre und die Coronapandemie auf 65,4 Millionen Tonnen, in den Jahren zuvor pendelte sich die Ernte zwischen 70 und 75 Millionen Tonnen ein.

Quelle: Denys Shmyhal, ukrainischer Premierminister | Прогнози збору врожаю цьогоріч покращилися до 65-67 млн тонн - результати селектору під головуванням Прем'єр-міністра | Кабінет Міністрів України (kmu.gov.ua)

  • 102 Schiffe mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen liefen bis Anfang September aus ukrainischen Häfen aus

Am 1. August wurden im Rahmen der von der UNO unterstützten Getreideinitiative die ukrainischen Häfen Odessa, Chornomorsk und Pivdenny am Schwarzen Meer geöffnet. Bis zum 7. September liefen dort 102 Schiffe mit 2,37 Millionen Tonnen landwirtschaftlicher Erzeugnisse für den Export aus.

54 Schiffe mit 1,04 Millionen Tonnen wurden in asiatische Länder geschickt. 32 Schiffe mit 0,85 Millionen Tonnen Getreide fuhren nach Europa, 16 Schiffe mit 0,47 Millionen Tonnen landwirtschaftlicher Erzeugnisse gingen nach Afrika.

Quelle: Ministerium für Infrastruktur der Ukraine | Міністерство інфраструктури інформує щодо географії експорту в рамках "зернової ініціативи" - Новини - Міністерство інфраструктури України (mtu.gov.ua)

  • 10 Millionen Tonnen landwirtschaftliche Erzeugnisse exportiert

In den 5,5 Kriegsmonaten hat die Ukraine fast 10 Millionen Tonnen landwirtschaftlicher Erzeugnisse exportiert. 2020 waren es mit 19,5 Millionen Tonnen mehr als doppelt so viel. Das am meisten exportierte Getreide ist Mais.

Quelle: Amt für Agrarpolitik und Ernährung der Ukraine

  • Größte Anzahl von Schiffen mit Getreide aus Donau-Häfen

In diesem Jahr schickt die Ukraine die größte Anzahl von Getreide-Schiffen aus den Häfen an der Donau. Davor konnten die ukrainischen Donauhäfen nur über den Sulina-Kanal erreicht werden, der durch Rumänien läuft. Nach der Befreiung der Schlangeninsel wurde der direkte Zugang zum Schwarzen Meer von den Häfen an der Donau über den Bistrij-Kanal möglich

Quelle: Ministerium für Infrastruktur der Ukraine | За минулу добу у напрямку українських Дунайських портів пройшла рекордна кількість суден - Новини - Міністерство інфраструктури України (mtu.gov.ua)

  • Wegen der russischen Aggression im Schwarzen und Asowschen Meer hat die Ukraine in diesem Jahr ihre Getreideexporte auf der Schiene erhöht.

Die erste Lieferung landwirtschaftlicher Erzeugnisse aus der Ukraine kam am 23. August per Bahn in Deutschland an. 1.200 Tonnen Mais wurden im Seehafen Rostock angeliefert. Die Eisenbahnwaggons mussten an der Grenze zu Polen umgeladen werden.

Quelle: NDR

Anastasia Buchna
Foto-Credits: Ministery of Infrastructure of Ukraine

Sprechen Sie hierzu gerne an:

Sabine Bömmer Profil bild
Pressesprecherin Schülergenossenschaften

Sabine Bömmer

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  • 10.03.2022
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Solidarität mit der Ukraine

Der Krieg in der Ukraine hat viele Menschen vom einen auf den anderen Tag in eine unvorstellbare Notlage versetzt. Wir als Verbandsfamilie verurteilen den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine auf das Schärfste. In Deutschland und vielen anderen Staaten in Europa und der gesamten Welt herrscht eine sehr große Unterstützungsbereitschaft für die Menschen in der Ukraine und auch uns als Verbandsfamilie macht die aktuelle Situation, vor allem das große Leid der Menschen, sehr betroffen – aber nicht tatenlos. Wir wollen gemeinsam den Betroffenen unmittelbar helfen.

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